Sich Hilfe suchen bei sexualisierter Gewalt ist extrem wichtig, darum geht es in dieser Episode.
Dies ist der zweite Teil von Sophias #MeToo Geschichte. Im ersten Teil hat Sophie davon erzählt wie sie mit den Spätfolgen der sexuellen Misshandlungen wie Depressionen, Ängsten, Essstörungen und Panikattacken umgegangen ist. Wenn du das noch nicht gelesen oder im Podcast gehört hast, dann schau dort gerne zuerst rein.
Hier geht es nun darum, wie sie sich Hilfe suchen gegangen ist und wie sie sich selbst in eine Klinik eingewiesen hat. Wie sie sich ihre Lebenskraft und Willen wieder zurückgeholt hat und die Beziehung zu ihrer Familie gestärkt hat.
Mai: Du hast mehrere Missbräuche auch von unterschiedlichen Menschen erlebt. Wissen deine Eltern heute davon?
Sophie: Ja meine Eltern wissen heute davon. Zwar nicht von allem, was mir passiert ist, weil ich mittlerweile so gefestigt bin und gestärkt bin, dass ich weiß und erfahren habe, dass es meine Geschichte ist und nicht die meiner Eltern.
Gleichzeitig da das so früh in der Kindheit angefangen hat und meine Eltern es damals auch mitbekommen haben war es natürlich ein Thema und meine Eltern haben gemerkt, dass es mir nicht gut geht. Ich musste lange in Kliniken sein und dadurch war es ein Thema, worüber geredet werden musste, weil mir die Beziehung unglaublich wichtig ist.
Mai: Wie ist eure Beziehung heute?
Sophie: Mittlerweile ist sie echt gut. Ich bin unglaublich dankbar, dass ich meine Eltern hab. Beide sind unterstützend und tun alles, was sie können, dass es mir gut geht. Ich weiß, dass ich immer zu beiden kommen kann.
Egal was es ist, ich danach fragen könnte und dass sie alles Menschenmögliche tun würden, um mich zu unterstützen. Da bin ich unglaublich dankbar. Gleichzeitig weiß ich, dass es ein sehr langer Weg dorthin war, auch für mich emotional was, da alles passiert ist, weil es damals nicht leicht war.
Es sind viele Dinge passiert, die sehr schwierig waren. Als ich in der Pubertät war, hatte meine Mutter auch eine Phase, in der es ihr nicht gut ging. Da hatte sie durch die Wechseljahre bedingt sehr starke Stimmungsschwankungen und es war eine unglaublich schwierige Zeit, weil ich auch viel Instabilität Zuhause erfahren habe und mein Vater mit Empathie ein bisschen Schwierigkeiten hat.
Für ihn ist es sehr schwierig, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, es ist nichts, was automatisch abläuft, sondern er muss sich daran erinnern oder erinnert werden. Deswegen war ich mit den sehr starken Emotionen von meiner Mutter auch gefühlt alleine und habe das versucht auszugleichen, was man als Jugendlicher, als Kind so macht. Und auch der Missbrauch an sich hat einfach sehr viel Dynamik gehabt.
Mai: Ich habe das Gefühl gerade bei einem Missbrauch gerade, wenn man Kind ist, das die Beziehung zu den Eltern stark beeinflusst, wird, weil in dem Moment die Eltern ja diejenigen sind, die einen beschützen sollten.
Das heißt, in dem Moment, haben sie es nicht geschafft einen zu beschützen. Bei mir zum Beispiel war es so, dass meine Eltern gar nicht zu Hause waren, die haben gearbeitet und es war ein Freund meiner Eltern, der eben auf uns Kinder “aufgepasst” hat und in dem Moment hab ich mich total schutzlos und ausgeliefert gefühlt.
Ein Gefühl was ich ganz lang mit mir herumgetragen habe, dass meine Eltern mich nicht beschützen können, dass egal was passiert meine Eltern mir nicht helfen können. Und es hat sich in so vielen Situationen bei mir im Leben manifestiert.
Das meine Eltern mir zum Beispiel, ich bin Migrantenkind, in der Schule nach der Grundschule nicht mehr helfen konnten, weil das alles nicht ihre Sprache war, weil das nicht die Schulbildung ist, die sie genossen haben.
Und deswegen habe ich auch, krass im Nachhinein, ich habe meine Eltern ganz lang für dumm gehalten, weil sie nicht das Wissen hatten, was ich irgendwie mit 14 oder 15 hatte. Ich habe gar nicht verstanden, dass meine Eltern eine ganz andere Intelligenz und ein ganz anderes Wissen haben, welches hier nicht gelebt, nicht anerkannt und nicht gesehen wird.
Das finde ich spannend, da als Erwachsener später noch mal ranzugehen und zu sagen: Das sind meine Eltern und ich habe die lieb und die haben mich auch lieb und da rein zu investieren.
Mai: Das Gefühl der Schutzlosigkeit kenne ich auf jeden Fall, gerade auch durch die vielen Flashbacks die Hauen einen richtig raus. Da fühlt man sich ohnmächtig und schutzlos, weil man einfach innerhalb von kürzesten Sekunden wieder in der Situation ist und durchlebt.
Was sich bei mir damals stark als Glaubenssatz gefestigt hat, war, dass man mir nicht glaubt. Bei mir war nämlich das Schwierige gewesen, als ich im Alter von 6 das erste Mal den Missbrauch erfahren habe, bin ich zu meinen Eltern gegangen und habe ihnen damals davon erzählt.
Meine Eltern haben mir geglaubt, und haben versucht mir zu helfen. Sie haben versucht, in ihren Möglichkeiten das so zu managen, dass der Mann der den Missbrauch begangen hat, nicht mehr in meiner Nähe ist.
Ich habe davon aber nichts mitbekommen, dass meine Eltern versucht haben das so zu regeln und das gemacht haben. Ich habe gedacht, ich habe mich meinen Eltern anvertraut, die helfen mir irgendwie nicht, es passiert nichts.
Der Missbrauch hat weiter stattgefunden, wovon meine Eltern aber nichts wussten. In meinem Kopf als sechsjähriges Kind dachte ich, ich bin hingegangen und hab gesagt, dass da was komisch ist, als Sechsjährige kann man ja nicht einschätzen, was ist richtig, was ist falsch, man hat noch kein Verständnis von Sexualität.
Und ja meine Eltern haben nicht mitbekommen, dass es weiter passiert ist, weil ich nichts mehr gesagt habe, weil ich dachte, dass ich mit ihnen geredet habe, hat nichts geholfen. Das war dieser Mechanismus: Meine Eltern dachten sie haben mir geholfen und ich dachte, es ist nichts passiert, anscheinend muss der Fehler bei mir liegen oder ich bin falsch, weil ich daran etwas komisch finde.
Dadurch ist bei mir eben dieser Glaubenssatz entstanden, dass mir niemand glaubt und das, dass was passiert normal ist. Dadurch, dass es dann eben lange weiterging, bin ich damit aufgewachsen, für mich war es normal, dass solche Dinge passieren.
Mai: Ich habe mich mittlerweile mit vielen Opfern unterhalten und egal in welcher Konstellation, ob darüber gesprochen wurde oder nicht und ob angezeigt wurde oder nicht. Ich glaube diese Angst: “Mir wird nicht geglaubt” ist eine der Größten.
Sowohl: “Mir wird nicht geglaubt” als auch dann noch schlimmer: “Ich bin eine Lügnerin”. Das ist so krass das bei dir zu hören. Bei mir z. B. war es so, dass ich so viel Angst davor hatte, dass mir nicht geglaubt wird, dass ich es erst gar nicht ausgesprochen habe.
Es ist abgefahren wie sehr dieses: Mann glaubt mir nicht” drin ist und gleichzeitig, was ich auch spannend fand: Ich war ja auch lange in der Psychotherapie und meine Therapeutin meinte, dass es aber auch ein ganz typisches, Täter/Opfer Muster ist.
Dass der Täter, dem Opfer das rein indoktriniert, dass einem nicht geglaubt wird. Das war bei mir auch so, dass der Mann gesagt hat: Also erst mal Schweigegelübde: “Du darfst es niemandem erzählen, wenn du es jemandem erzählst dann passiert was ganz Schlimmes.”
Das reicht bei einem Kind ja schon, du musst gar nicht aussprechen was passiert, aber es passiert etwas ganz Schlimmes. Dann noch im nächsten Satz: “Selbst wenn du es erzählst, dir glaubt keiner.” Erwachsenen glaubt man, Kindern nicht.
Das zu verstehen, dass es vollkommen normal ist, als Opfer die Angst zu haben, das einem nicht geglaubt wird und das diese Täter/Opfer Konstellation, diese Energie, die das kreiert, da herauszukommen ist das Schwierige.
Sophie: Ich glaube, das vielen Tätern überhaupt nicht bewusst ist was sie mit nur einem Wort oder einem einzigen Satz, der nicht einmal wiederholt werden muss, sondern vielleicht einmal gesagt wurde, wie tief sich was in das Gedächtnis von einem Kleinkind einbrennt. Und was für eine Reaktion darauf kommt.
Mai: Wann war der Moment für dich, wo du gesagt hast: Ich komme nicht mehr alleine klar, ich muss mir Hilfe suchen? Du hast vorhin davon gesprochen, dass du viel in Kliniken warst, viele Therapien gemacht hast. Gab es einen Schlüsselmoment, wo du gesagt hast, es geht nicht mehr?
Sophie: Wir hatten es vorhin über andere Strategien gehabt, zum Beispiel die Essstörung, mit der ich versucht habe, zu überleben. Ich war damals Studien bedingt in einem Umfeld, in dem sehr viel getrunken wurde, gefeiert und auch anderes genommen wurde.
Was natürlich ein gutes Mittel ist, welches selbst im Alltag verwendet wird: “Hast du Liebeskummer, geht man erst mal einen trinken” eine ganz weitverbreitete Strategie.
Ich habe damals sehr viel getrunken und das Trinken hat auch Panik, Angst und Flashbacks bei mir ausgelöst. Ich hatte damals von einem Psychiater, bei dem ich ganz selten mal war Tavor verschrieben bekommen.
Ich habe gemerkt, dass ich immer mehr feier, immer mehr trinke und immer mehr vertrage und um keine Angst zu bekommen habe ich dann nachts noch Tavor genommen zusätzlich, wenn ich total betrunken heimgekommen bin.
Dann hab ich die Tablette genommen, dass ich keine Angst habe. Irgendwann wurden es immer mehr Tabletten, weil ich wusste, Tavor ist ein Benzodiazepin, das macht müde, das macht schläfrig, es lähmt in gewisser Weise in hohen Dosen die Atmung, was Alkohol auch macht.
Es war immer öfter, dass ich abends drei bis fünf Tabletten genommen habe und im Kopf gehofft hatte, dass ich nicht mehr aufwache. Ich habe damals gemerkt, dass mir mein Leben nicht wichtig war und dass ich es nicht mehr aushalten konnte.
Aber ich habe gemerkt, wie viel ich anderen damit wehtue, die Menschen, die mich geliebt haben und die mir auch nahestanden. Das war für mich der Punkt, wo ich dann irgendwann nach so einer Nacht gemerkt habe, dass es nicht mehr geht.
Ich bekomme weder mein Studium hin noch irgendwas anderes und ich bin immer noch hier. Wenn ich schon immer noch hier bin, dann will ich wenigstens niemandem mehr weh tun.
Mai: Hast du zu der Zeit, Menschen mit deinem Verhalten wehgetan?
Sophie: Auf jeden Fall, ja. Ich glaube, es ist auch unglaublich schwierig, zu sehen wie einen Menschen, den man liebt, leidet und sich dann zusätzlich noch selbst kaputtmacht.
Man versucht, ihm irgendwie zu helfen, aber weiß nicht wie und gibt sich am Ende selbst die Schuld. Da entstehen ja auch ganz viele, zwischenmenschliche Kreise, auch diese Co-Abhängigkeit die es bei psychischen Erkrankungen gibt.
Mai: Was hast du dann nach der Erkenntnis getan?
Sophie: Ich habe damals angefangen, nach Kliniken zu schauen. Ich habe gemerkt, dass ich aus dem Umfeld rausmuss, in dem so viel getrunken wird, in dem Drogen genommen werden. Ich musste weg und irgendwohin, wo man mir helfen kann.
Mai: Warst zu der Zeit schon mal in Psychotherapie?
Sophie: Ja, was das Ganze erschwerte. Bisschen die Ironie im Leben. Ich hatte ja vorhin gesagt, dass die Spätfolgen mit 15 ungefähr mit meinem ersten Partner anfingen. Es wurde schlimmer und immer schwieriger.
Als ich 17 war, hatte ich meinen ersten Suizidversuch. Nach diesem Suizidversuch bin ich damals in eine Klinik eingeliefert worden. Das war eine Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo ich drei Monate war, zunächst geschlossen und dann im offenen Bereich.
Dort hatte ich die ersten zwei Sitzungen einen sehr netten Therapeuten, der dann aber gegangen ist. Danach wurde es leider schlimm. Ich habe drei Monate abgesessen, aber mir wurde nicht geholfen.
Ich hatte eine Ahnung gehabt, dass es mir aufgrund der Erlebnisse früher, so schlecht geht. Für mich war es unglaublich schwierig, darüber zu reden, aber ich habe es damals bei meiner Therapeutin angesprochen und habe erwähnt, dass mir so etwas passiert ist und das ich glaube, dass ich drüber reden muss.
Meine Therapeutin wollte nicht darüber sprechen, weil sie gesagt hat, wir wühlen nichts auf. Ich weiß nicht, ob ich zu instabil war.
Auf jeden Fall war ich dort und habe Zeit abgesessen. Es waren auch sehr viele schwierige Jugendliche da, viele die sich geritzt haben. Ich habe damals auch eine Zeit gehabt, wo ich das gemacht habe, auch eine der Überlebensstrategien.
Dort in der Psychiatrie waren aber auch viel größere Fälle, die sich dort wirklich die Arme aufgeschnitten haben. Ich kann mich noch an einen Moment erinnern, da bin ich in ein Zimmer hereingekommen und es hatte sich eine den Föhn ausgeliehen. Sie war gerade dabei ihn über das Waschbecken zu halten.
Ich habe sie vom Waschbecken wegbekommen und ihr diesen aus der Hand gerissen und versucht Hilfe suchen zu können. Es ist aber niemand gekommen, weil dort den ganzen Tag so viel Chaos war.
Das, wenn jemand geschrien hat, gefühlt niemand mehr reagiert hat. Es war für mich auf jeden Fall keine Station, die mir weitergeholfen hat.
Deswegen habe ich mir auch ganz lange danach keine Hilfe suchen versucht, weil ich das Gefühl hatte, ich habe Hilfe gesucht und niemand hat mir geholfen. Anscheinend kann mir niemand helfen.
Mai: Da ist das Muster wieder. Und dann hast du es aber doch getan und dich dafür entschieden noch einmal Kliniken raus zu suchen. Wie sucht man so eine Klinik, was googelt man da?
Sophie: Googeln kann man zum Beispiel supereasy nach psychosomatischen Kliniken oder ich habe mich erst einmal darüber informiert, was es für Möglichkeiten gibt.
Habe dann herausgefunden was der Unterschied zwischen psychiatrisch/psychosomatisch, was zahlt meine Krankenkasse, haben die Krankenkassenverbandskliniken, gibt es Kliniken die, die Krankenkasse gar nicht zahlt.
Dann habe ich von meiner Krankenkasse Kliniken zugeschickt bekommen, eine Liste der Verbandskliniken, wo auch über 30 Tage hinaus gezahlt wird.
Ich hatte irgendwie schon das Gefühl das, wenn ich weiß ich werde nur vier Wochen dort sein, mir das sehr viel Druck machen wird. Deswegen habe ich dann nach allen Einzelnen geschaut und mir eine Pro/Contra Liste gemacht, alles aufgeschrieben, Bewertungen durchgelesen.
Stundenlang war ich damit beschäftigt, eine echt beschissen, mühselige Arbeit. Leicht war es nicht. Ich habe dann eine Klinik gefunden und angefragt und auch recht zügig einen Platz bekommen.
Im Endeffekt war ich dann in der Klinik für neun Monate am Stück. Deswegen bin ich sehr froh, dass ich eine herausgesucht habe, die länger als 30 Tage bezahlt wurde.
Mai: Hast du zu der Zeit studiert? Hast du da ein Pause-Semester gemacht?
Sophie: Ja, ich habe mir erst mal ein Urlaubssemester genommen. Ich hatte das Semester schon angefangen aber kaum Vorlesungen besucht, weil ich es nicht hinbekommen habe.
Mir ging es zu schlecht. Hatte mir ein Urlaubssemester genommen, weil ich wusste, wenn ich jetzt ein bis zwei Monate in der Klinik bin, dann ist das Semester rum und ich kann die ganzen Klausuren nicht nachholen. Also habe ich während dem Klinikaufenthalt ein zweites Urlaubssemester beantragt.
Mai: Du konntest danach wieder anfangen zu studieren?
Sophie: Ich bin danach umgezogen, bin wieder zurück in die Heimat gezogen, weil ich gemerkt habe, dass ich viel mit meiner Familie klären muss. Ich wollte in der Nähe sein, dass ich auch die Unterstützung bekomme und dass ich an der Beziehung arbeiten kann.
Auf der anderen Seite hatte ich dort meine alten Freunde und ich habe ein neues Umfeld gebraucht. Ich hätte nicht dorthin zurückgehen können. Ich hätte mich da nicht gut von den ganzen Erinnerungen, den Räumen, auf die Gegebenheiten und wie die Menschen gepolt sind, abgrenzen können.
Mai: Kann ich gut verstehen. Hast du dein Studium dann wieder aufgenommen oder etwas Neues gemacht?
Sophie: Das war im Master-Studium, welches ich weitermachen wollte. Allerdings konnte ich nur recht wenig anrechnen lassen und habe es deswegen noch mal neu angefangen.
Was für mich noch mal ganz gut war, weil ich dadurch eben nicht nur noch ein oder zwei Semester hatte, sondern wirklich ein volles Master-Studium.
Also habe ich weitere zwei Jahre gehabt, in denen ich mir Zeit lassen konnte. Nach diesen ganzen Klinikaufenthalten braucht es einfach unglaublich viel Zeit zurückzukommen.
Es war ein langer Weg, ich habe den Rest auch in Teilzeit studiert. Ich habe mir echt Zeit beim Studieren gelassen einfach, weil die Gesundheit vorgeht. Die Gesundheit ist das Wichtigste, was man hat.
Mai: Das finde ich so bewundernswert, dass du dich da priorisiert hast und nicht die Leistungsgesellschaft, in Regelstudienzeit fertig zu werden, so schnell wie möglich an den Arbeitsmarkt zu kommen und Renten Punkte zu sammeln.
Sophie: Das war auch ein langer Weg. In der Schulzeit hat mich der Ehrgeiz aus richtig viel herausgerissen, das war für mich eine Strategie. Ich war immer Einser Schülerin. Selbst mein Bachelorstudium habe ich mit einer Eins abgeschlossen.
Das war schwierig für mich, mich da raus zu nehmen, mir mehr Zeit für den Master zu geben und ich glaube, ein bisschen Ehrgeiz habe ich immer noch behalten, was auch in Ordnung und vorteilhaft ist.
Hört sich immer verrückt an, wenn ich das so sage, aber Lernen macht mir Spaß und ich schreib auch gerne Klausuren. Auf den psychischen Stress kann ich ganz gut verzichten, aber ich schreibe gerne Klausuren.
Das war einfach wunderschön, dass ich das in meiner Zeit machen konnte. Ich habe öfter gemerkt, wie unwichtig es ist ein oder zwei Jahre früher fertig zu sein. Wo ich mir denke, wieso machen die Leute immer früher Abi?
Wir verschenken so viel Zeit von der wertvollen Kindheit und Jugend, wo man noch Freiheiten hat und Spaß haben kann, nur um früher auf dem Arbeitsmarkt zu sein und zwei oder drei Jahre früher fertig zu sein.
Wozu? Man bekommt als Quereinsteiger, als langer Student heute, irgendwann die tollen Jobs, man geht seine Stationen ab und man kriegt irgendwann das, was man sich wünscht.
Besonders, wenn man sich Zeit lässt und schaut: Wer bin ich? Was sind meine Stärken? Was sind meine Kompetenzen? Was will ich wirklich? Was macht mir Spaß?
Mai: Wo nimmst du all deine Kraft und deinen Lebensmut her?
Sophie: So gegensätzlich wie sich das vielleicht anhört, aber ich glaube, dass ich unglaublich viel Lebensmut aus einem Trauma nehme, nicht aus dem, was mir jemand zugefügt hat, sondern aus dem, was ich daraus gemacht habe, aus meiner Entwicklung.
Ich habe in den Kliniken so viel lernen dürfen. Es ist unglaublich, wie viel ich über Emotionen lernen konnte, was Emotionen sind, wie sie entstehen, wie sie miteinander wechselwirken, dass es primäre und sekundäre Gefühle gibt, die einen werden direkt ausgelöst, die anderen werden durch die ersten Gefühle ausgelöst. Wie man damit umgeht und wie sie sich verstärken können.
Was für Strategien es gibt und wie wichtig es ist, dass alles anzunehmen, was man an Gefühlen hat. Dass es wichtig ist, Gefühle auszuleben, auch, wenn es in unserer Gesellschaft heute verpönt ist.
Es ist schön, auch traurig zu sein, nicht weil ich mich dann toll fühle, weil ich traurig bin oder weil ich Mitleid bekomme, sondern weil es ein Gefühl ist, welches zum Leben dazugehört.
Traurigkeit zeigt mir, dass mir etwas wichtig war, die Traurigkeit ermöglicht mir, dass ich auch Freude, Glück und Liebe empfinden kann. Wenn mir etwas wichtig ist und ich keine Traurigkeit habe, kann ich es auch nicht lieben.
Ich habe Meditation dadurch für mich entdeckt. Ich habe mich kennengelernt, ich habe Zustände kennengelernt, bei denen ich vorher nie gedacht hätte, dass sie möglich sind. Sowohl dissoziiert tiefe Zustände, unangenehme als auch wunderschön meditative Zustände.
Dadurch hat sich ein ganz festes Urvertrauen entwickelt. Ich vertraue einfach unglaublich auf das Leben und darauf, dass alles so passiert, wie es für meine Entwicklung wichtig ist. Dass ich aus allem ein Geschenk machen kann.
Da kommt meine Kraft her. Ich stehe morgens auf, nicht jeden Tag, aber ich stehe auf und freue mich, dass ich aus dem Bett springen kann, und bin neugierig darauf, was das Leben für mich vorbereitet hat.
Es ist bescheuert aber selbst wenn mir die Bahn direkt vor der Nase wegfährt, stehe ich da und grins wie ein Idiot. Ich denke mir, vielleicht war in der Bahn gerade jemand, dem ich heute nicht begegnen sollte oder in der nächsten Bahn ist jemand, der wichtig für mich ist.
Klar man kann man sich mit Perspektive alles Leben, wie man will, aber es ist einfach ein inneres Vertrauen in mir, das mich das Leben auffängt.
Mai: Ich finde es so bewundernswert. Klar ist es immer eine Sache der Perspektive und der Fähigkeiten. Ich glaube, du hast, was sich heute die Leute unter Persönlichkeitsentwicklung vorstellen und sich das aus Bücher und Veranstaltungen, Christian Bischoff und wie sie nicht alle heißen, aneignen aus der Klinik geholt.
Das sind alles Methoden, die aus der Psychotherapie kommen, mit denen du dich so intensiv beschäftigt hast. Ich habe das Gefühl, das sind für dich auch starke Werkzeuge, was ich auch sehr an dir schätze, du bist klar, du weißt ganz genau, wer du bist und wo du bist.
Auch spannend, was ich ganz am Anfang gesagt habe, es gibt kein Stereotyp von Opfer. Ich habe zum Beispiel niemals eine Klinik von innen gesehen, weil ich mich total dagegen gewehrt habe aus meinem Umfeld herauszugehen.
Gerade mein Umfeld habe ich mir gesund gebaut. Witzigerweise habe ich ganz bewusst mir mein Umfeld so gewählt, dass ich von echt tollen, yogischen Menschen umgeben bin, die total offen und für mich da sind.
Genau aus diesem Umfeld wollte ich nicht raus. Ich bin z. B. zwei Jahre in ambulanter Therapie gewesen und habe zwei Jahre lang mit meiner “Taubheit”, zweimal die Woche tiefenpsychologisch gearbeitet. Ich lag auf der klassischen roten Couch. Jeder Weg ist anders.
Dein Weg ist so formal, so anders als meiner und trotzdem haben wir uns, und ich glaube, das schweißt uns auch zusammen, beide für das Leben, für die Liebe, für das Fühlen entschieden, auch für die negativen Gefühle: Durch die Angst zu gehen, durch die Scham zu gehen und zu sagen: “Da gehen wir durch, da gehen wir hin.”
Hast du noch ein paar abschließende Worte vielleicht für all die Leser, die bis hier hingekommen sind? Irgendwas wo du sagst, das möchtest du noch erzählen, was dir wichtig ist?
Sophie: Ich glaube, ich habe etwas, was mir sehr wichtig ist. Ich habe in der Zeit durch die Spiritualität erfahren, was Liebe für mich wirklich bedeutet. Dass sie so universal ist, dass man jeden Menschen lieben kann und das Liebe die verbindende Kraft zwischen Menschen ist.
Im Alltag fällt das manchmal so leicht, sich über irgendjemanden aufzuregen, zu lästern oder jemanden zu bewerten, oberflächlich zu urteilen. Man denkt darüber nach, wieso war derjenige jetzt so unfreundlich, das habe ich doch gar nicht verdient. Und es ist auch in Ordnung, dass diese Impulse da sind.
Was mir aber ganz wichtig ist: Jeder Mensch gibt in jeder Sekunde, in jedem Moment sein aller Bestes, was sie mit seinen Fähigkeiten und Ressourcen in dem Moment möglich ist. Alles, was andere Menschen tun, hat mehr mit den Menschen zu tun als mit uns.
Wenn uns Menschen verletzen dann machen sie es nicht, weil sie es absichtlich machen wollen, sondern weil sie in dem Moment keine andere Strategie haben die funktionaler ist, als die die sie vielleicht schon vorher gerettet hat.
Ich glaube, wenn man das im Hinterkopf hat und jeden Menschen mit einer liebevollen Ausstrahlung anschaut, mit liebenden Augen anschaut und weiß, dass derjenige genauso am Kämpfen ist wie man selbst, das derjenige alles was er tut nur, weil er sich Liebe, Anerkennung und Verbindung wünscht.
Dann kann man auf eine ganz andere Art miteinander umgehen und aufeinander zugehen und vielleicht auch jemanden in den Arm nehmen, der einen gerade angeschnauzt hat.
Mai: Bei den Worten belassen wir es. Danke Sophie.
Wenn du jetzt noch nicht den ersten Teil von Sophies #MeToo Geschichte lesen oder hören möchtest dann schau gerne hier vorbei. Es geht vor allem darum wie sie mit den Spätfolgen der Vergewaltigungen als Kind und Jugendlicher umgegangen ist.
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Hi, ich bin Mai 😊 Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht Opfern sexuellen Missbrauchs zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Auch wenn eure Scham und Angst etwas anderes erzählen: Das ist nicht wahr! Und es kommt noch besser: Der richtige schöne Teil eures Lebens liegt noch vor euch! Ich habe es geschafft, aus dem schlimmsten Erlebnis meines Lebens, eine enorme Kraft zu ziehen & mein Leben nach meinen Ideen neu zu gestalten - also kannst du das auch! Deine Mai 💛
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