Willkommen zum zweiten Teil des Interview mit Dr. Melanie Büttner, Sexual- & Traumatherapeutin. Bei Opfern von sexueller Gewalt bildet sich die Sexualität meistens in eines von zwei Extremen aus.
Die einen möchten gar nichts mit Sex zu tun haben und die anderen stürzen sich voll rein. Ich plaudere in diesem Teil des Interviews etwas auf dem Nähkästchen und erzählen, wie es bei mir war.
Im ersten Teil haben wir schon darüber gesprochen, was ein Trauma ist, und wie vielschichtig Traumata sein können. Schau deshalb am besten zuerst dort rein.
Mai: Einer der Grundideen meines Podcasts und Blogs ist es, anderen Opfern, die Möglichkeit zu geben, anonym von zu Hause aus zuzuhören, sich Tipps & Tricks abholen und sich weniger alleine zu fühlen.
Es gibt ja oft bestimmte Muster oder Glaubenssätze, mit denen Menschen, die eine ähnliche Erfahrungen gemacht haben, herumlaufen. Kannst du uns ein paar Muster nennen, die dir regelmäßig bei der Arbeit mit deinen Klient*innen auffallen?
Oft ist man sich dessen ja gar nichts bewusst, dass das “Opfermuster” und Folges des Trauma sind. Erst in dem Moment, wo man überhaupt merkt, dass dort was ist, kann man anfangen, daran zu arbeiten.
Melanie: Traumatisierung kann sich auf so vielschichtige Art und Weise auswirken. Wie auch auf die Sexualität. Immer wieder merke ich, dass es davon abhängig ist, was es für ein Trauma war. Es macht auch einen Unterschied, ob man “nur” einmal etwas Schlimmes erlebt hat oder immer wieder Übergriffe erlebt hat.
Bei Menschen die immer wieder Übergriffe erlebt haben, ist es häufig so, dass gerade dann, wenn sie noch sehr klein waren, mehr Beschwerden haben als jemand, dem das nur einmal passiert ist.
Opfer, die über eine längere Zeit sexuellen Missbrauch erlebt haben, haben oft ganz große Schwierigkeiten mit emotionaler und körperliche Nähe und Distanz.
Die Nähe wird unglaublich gewünscht. Sie ist überlebenswichtig und wenn man dann auch noch Vernachlässigung erlebt hat, dann hat man noch stärkere Sehnsucht nach Nähe.
Das Alleinsein auszuhalten kann die Person richtig fertigmachen. Auf der anderen Seite kann auch das Gegenteil passieren. Sobald man in die Nähe einer anderen Person kommt, bekommt man Angst.
Weil man in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht hat, dass Menschen, denen ich vertraue, mir unglaublich wehtun.
Durch die Nähe braucht man wieder die Distanz, um sich sicher zu fühlen. Es ist ein ständiges hin- und hergerissen sein zwischen Nähe und Distanz. In keinem Zustand fühlt man sich aber so richtig wohl und sicher.
Es ist in der Therapie immer ein Thema. Es ist völlig nachvollziehbar, dass man sich jemandem nah fühlen können möchte. Wir arbeiten dann erst einmal daran, wie die Beziehung sein müsste, damit man sich sicher fühlen kann.
Oft ist es dann auch so, dass sich die Betroffenen in Beziehungen befinden, wo sie objektiv gesehen gar nicht sicher sind.
Aufgrund eigener Gewalt- und/oder Vernachlässigungserfahrungen in der Kindheit, lassen sich viele auf eine Beziehung ein, in denen ihre Grenzen immer übergangen werden.
Der Grund dafür ist, weil sie ihre Grenzen nicht spüren. Sie selber diese Verantwortung nicht wahrnehmen können. Wenn ich es nicht spüre, kann ich es dem anderen nicht sagen. Ich kann dem anderen keine Orientierung geben, wo er aufhören soll.
Das heißt, es wird viel geschaut, ob der traumatisierte Mensch in einer Beziehung ist, wo beide Partner auf Augenhöhe sind. Ist sie von gegenseitigem Respekt geprägt?
Haben die Bedürfnisse von beiden den gleichen Wert? Kann ich mir selber Werte geben und habe ich mir ein*e Partner*in ausgesucht, der*die bereit ist, auf meine Bedürfnisse einzugehen?
Manchmal merkt man, dass man von einer in die nächste toxische Beziehung geht. Da muss man erst einmal erkennen, dass es toxisch ist.
Dann gibt es andere Dinge, die innerhalb der Sexualität passieren können. Im ersten Teil hatten wir schon über das Wiedererleben von Traumata besprochen. Das ist bei der posttraumatischen Belastungsstörung der Fall.
Viele Betroffene erzählen mir, dass ein starker Ekel und Angst hochkommen, obwohl der Partner einem nie wehgetan hat. Oder sie bekommen so eine starke Wut, dass sie ihrem Partner am liebsten ins Gesicht boxen würden.
Sie wissen aber nicht wieso, weil derjenige nie etwas getan hat. Das sind Gefühle, die auf einmal da sind, von denen man nicht versteht, warum sie da sind. Viele Betroffene bringen das gar nicht mit ihrem Trauma in Verbindung.
Es kann auch sein, dass sich ein Trauma erst viel später deutlich macht. Hat ein Trauma vor dem vierten Lebensjahr stattgefunden, dann kann es auch sein, dass man sich gar nicht daran erinnert. In diesem Fall ist eine Amnesie eingetreten, die den Überfall komplett weggelöscht hat. Das Gehirn löscht das Ereignis einfach, weil man noch nicht so weit ist, es zu verarbeiten zu können.
Die wenigsten Menschen werden sich an ihr erstes Weihnachten erinnern können. Trotzdem kann es sein, dass im sogenannten intrinsischen Gedächtnis, Emotionen trotzdem in Erinnerungen verankert sind. Bei einem sexuellen Missbrauch kann es die Ohnmacht sein, Wut, oder Gefühle, die man in diesem Kontext nicht richtig einordnen kann.
Ebenso können körperliche Erinnerungen festsitzen. Man hat das Gefühl beschmutzt zu sein, es nicht abwaschen zu können, obwohl der Übergriff schon zwanzig Jahre her ist. Oder man fühlt sich immer noch körperlich verwundet. Man kann die Wunden und den Schmerz immer noch fühlen.
Weiter berichten einige Betroffene, dass sie Schmerzen bei der Penetration bekommen. Dabei stark verkrampfen und dann nichts mehr geht. Oder sie leiden unter chronischen Schmerzen im Unterbauch: eine Stressreaktion des Körpers. Traumatisierte Menschen sind allgemein oft chronisch im Stress. Auch, wenn sie es nicht wahrnehmen.
Oft ist nicht nur der Beckenboden verkrampft, sondern auch eine starke Anspannung im Kieferbereich. Man hat Zähneknirschen, Schmerzen im Hinterkopf, im Nacken, im Bauchbereich, im Rückenbereich und eben auch im Genitalbereich.
Diesen chronischen Stress hat der Körper von traumatisierten Menschen ständig. Adrenalin und Kortisol sind chronische Stresshormone, die der Körper an die Muskulatur abfeuert, um Schutz zu erzeugen.
Der Körper geht immer noch davon aus, dass er bedroht wird. Deshalb muss er ständig bereit sein zu reagieren. Entweder zu flüchten, zu kämpfen oder zu gefrieren. Für jede Reaktion braucht man eine starke Muskelanspannung.
Für viele Opfer bedeutet Sex Stress, weil alte Trauma Erinnerungen hochkommen. Der Körper wird stark getriggert, was dazu führen kann, dass sich im Beckenbodenbereich alles anspannt. Beschwerden, dass die Vagina oder auch der Anus schmerzt, kenne ich von vielen Frauen.
Es gibt ganz viele Betroffene, die sagen, sie können sich selbst überhaupt nicht richtig spüren.
Wie eben schon erklärt, wenn man den eigenen Körper nicht spüren kann, kannst du dich sexuell nicht richtig spüren. Es gibt unheimlich viele Frauen, die keine Lust auf Sex haben, weil es für sie unglaublich anstrengend ist.
In Studien wurde auch untersucht, dass viele keinen Orgasmus bekommen können. Was ich aber noch viel häufiger sehe, ist, dass Betroffene Orgasmen und Lust haben können, es aber heftige Gefühle auslöst.
Eine Abwertung gegen sich selber, pervers zu sein. Das hat oft damit zu tun, dass Kinder, aber auch Erwachsene, trotz dass sie missbraucht werden, mit Erregung reagieren.
Oft ist es so, dass beim Sex der Körper einfach seinen Job macht. Er reagiert auf bestimmte Reize. Auch, wenn sie ungewollt sind. Männer und Frauen können daher eine ungewollte, sexuelle Erregung erleben.
Ein anderes Problem ist, das viele sexuelle Fantasien haben, die sich um Gewalt und Missbrauch drehen.
Betroffene berichten, dass liebevolle Sexualität bei ihnen nichts auslöst. Dann denken sie von sich selbst, dass sie pervers sind, weil sie nur bei Gewalt zum Orgasmus kommen.
Manche Betroffene gehen deswegen auch in die BDSM-Szene, weil sie denken, es sei ein Teil von ihnen. Tatsächlich ist es aber oft ein Wiedererleben, das stattfindet. Fragmente des Traumas werden in so einer Fantasie wieder aktiviert.
Weil es damals etwas ausgelöst hat, wird es heute wieder etwas auslösen. Das bedeutet aber nicht, dass dies die Sexualität ist, die man leben möchte. Das bedeutet nicht, dass man so ein Typ ist. Das heißt nur,
dass man das erlebt hat. Es gibt viele Betroffene die gar keine Kontrolle darüber haben.
Man will diese Fantasien nicht, sie stressen einen total, aber man weiß selber nicht, wie man sie wegbekommen soll. Es ist etwas sehr Vielschichtiges. Das ist der Grund, warum viele Betroffene ihrer Sexualität ganz aus dem Weg gehen.
Was ich als posttraumatische Belastungsstörung sehe, weil sie es nicht aushalten können und so wenig Sex wie möglich haben.
Viele trinken Alkohol davor, um sich zu beruhigen, oder nehmen Beruhigungsmittel ein, damit sie mehr Abstand haben.
Das sind alles Lösungsversuche, um vielleicht einmal in der Woche mit dem Partner Sex zu haben.
Es gibt aber auch Betroffene die keine PTBS Beschwerden haben, sondern die zieht es sehr stark in die Sexualität. Sie stellen über die Sexualität eine Beziehung her.
Aus dem eigentlichen Bedürfnis heraus: Man wünscht sich eine Beziehung. Wo dann die Erfahrungen im Hinterkopf steckt: Eine Beziehung kann ich nur herstellen, wenn ich Sex gebe.
Dabei kann es leicht passieren, dass die Betroffenen immer wieder wechselnde Partner haben.
Vielleicht deshalb, weil sie einen sehr starken Selbsthass haben und denken, sie haben es nicht verdient anders behandelt zu werden.
Es kann sich sogar eine Art Sexsucht entwickeln. Die Betroffenen merken, dass sie ohne Sex total verzweifelt sind und können nicht richtig leben.
Mai: Finde ich spannend, dass du beide Extreme aufgezeigt hast. Von der Gesellschaft kennt man eher nur den ersten Stereotypen: Dass man danach gar kein Sex mehr mag. Es gibt aber eben auch hier wieder ein Kontinuum, wo man auch in das komplett andere Extrem gehen kann.
Melanie: Was auch viele machen, ist bewusst in die Sexualität reinzugehen. Immer wieder Sex mit wechselnden Menschen zu haben oder sogar Sexarbeiter*in zu werden. Sie gehen ganz bewusst in die BDSM-Szene rein, weil sie damit lernen ihre Grenzen zu setzen und sich damit ihre Sexualität zurückholen.
Sie möchten sich davon nicht zerstören lassen, sondern konfrontieren sich damit. Was nicht unbedingt immer schön ist, aber man lernt, dass ein Missbrauch sich nicht mehr wiederholt.
Es kann auch dabei helfen, die Kontrolle wiederzukriegen, indem man wieder in die Sexualität reingeht. Man muss es nicht immer als einen totalen Nachteil sehen. Es kann auch eine Lebenserfahrung sein.
Mai: Okay, du hast mir jetzt eine ganz schöne Steilvorlage geliefert, deswegen werde ich jetzt mal aus dem Nähkästchen plaudern und eine ganz persönlichen Geschichte mit euch teilen. Ich bin zum Beispiel für mehrere Jahre in die BDSM-Szene gegangen, weil ich beim “normalen” Sex nicht besonders viel gespürt habe. Lange habe ich gedacht, dass das einfach zu mir gehörte.
Zu der Zeit habe ich mich total stark und kraftvoll gefühlt, weil beim BDSM vorher besprochen werden muss, wo die Grenzen sind. Das zu besprechen ist so unüblich in unserer Gesellschaft.
Und ab einem bestimmten Punkt ist das “ausgelaufen”, ich hatte nach meiner Gerichtsverhandlung kein Bedürfnis nach BDSM mehr. Direkt nach der Gerichtsverhandlung hatte ich das Gefühl, ich bin wie ein weißes Blatt. Ich wusste nicht mehr, wer ich bin, wo oben, unten, rechts und links ist.
Mein komplettes “Ich” hatte sich davor mindestens dreieinhalb Jahre nur auf diese Gerichtsverhandlung ausgerichtet. Und plötzlich hing ich im Nirgendwo. Das hat dann auch einige Monate gebraucht, bis ich dann in einen Status gekommen bin, in dem ich mich wohlfühle.
Ich habe gemerkt, dass ich nur noch ganz selten Lust auf BDSM habe und jetzt auch “normalen” Sex genießen kann.
Ich kann nun Streicheln und Kuscheln in vollen Zügen genießen. Wo ich mich vorher fragte, warum Menschen das mögen.
Melanie: Wie ist die Gerichtsverhandlung ausgegangen?
Mai: Er wurde verurteilt und er hat auch alles gestanden. (Hier geht es zu dieser Geschichte).
Melanie: Das ist doch eine machtvolle Erfahrung.
Mai: Total. Bevor die Verhandlung losging, hat er auf dem Flur mit Kniefall, um Verzeihung gebeten.
Melanie: Ich finde, wenn man das mal analysiert, ergibt das nur Sinn, dass du danach BDSM nicht mehr brauchtest. Mit der ganzen inszenierten Macht und Unterwerfung. Das war ja ein wahnsinniger Ermächtigungsmoment, den du da erlebt hast. Wahnsinnig stark.
Mai: Danke. Ich kann das heute so im Rückblick sehen. Hätte mir das aber jemand früher gesagt, dass die BDSM eine Folge des Traumas ist oder eine Ausweichoption, weil ich keinen “normalen” Sex konnte, dann wäre ich sehr wütend geworden. Damals war ich vollkommen davon überzeugt, dass ich so bin, und dass das zu mir gehört.
Melanie: Ja das ist nachvollziehbar. Es ist zu dem Zeitpunkt auch ein Teil deiner Person gewesen. Ich finde es auch ganz wichtig, dass du das alles erzählst. Alles, was ich eben so geschildert habe, kann man natürlich auch so unter diesem Label: “Diagnose & Krankheit” sehen.
Man kann es aber auch als Bewältigungserfahrung sehen. Sexualität ist ein Teil von uns. Es gibt den Begriff: Sexualidentität. Also, was für ein sexueller Mensch bin ich? Genauso wie wir uns über unser Leben hinweg persönlich entwickeln, so verändert sich unsere Sexualität.
Zu dem Zeitpunkt war das eben deine Sexualität. Ich glaube, dass man da mit traumatisierten Menschen ganz vorsichtig arbeiten muss. Man muss sie mit ihrer derzeitigen Sexualität ernst nehmen. Ganz schwierig wird es, wenn man von oben und pathologisierend daherkommt und demjenigen sagen will, was normal ist.
Gefährliche Stelle. Deswegen verstehe ich das gut, dass dich das wütend gemacht hätte. In dem Moment erhebt sich ja auch wieder jemand über dich.
Mai: Ich mag noch mal auf eine Frage eingehen, die mit der vorher genannten Sexarbeit also Prostitution zusammenhängt. Jemand aus der Community fragt: “Nach der sexualisierten Gewalt, die ich erlebt habe, konnte ich trotzdem nach ein paar Wochen wieder Sex haben und weiterhin als Sexarbeiterin arbeiten.
Irgendwie war da immer ein Gefühl, dass es nicht richtig ist, nach dem so etwas passiert ist. Ich hatte auch den Gedanken, dass der Übergriff dann ja gar nicht so schlimm gewesen sein kann. Das wurde mir sogar von einer Person aus meinem Umfeld so mitgeteilt
Ich frage mich tatsächlich auch, wie es möglich ist, dass ich so schnell wieder Sex haben konnte. Natürlich hat es mich gerade am Anfang sehr viel Kraft gekostet und ich musste das erste Mal die Erfahrung mit einem Flashback machen.
Dennoch funktioniert es meistens auch gut ohne, dass es mich stark triggert. Wie ist das möglich?”
Melanie: Was häufig erwartet wird, ist, dass Menschen auf sexuelle Gewalt danach mit Abstoßung und Schmerzen reagieren. Manche Menschen reagieren so und andere reagieren ganz anders.
Es gibt nicht die normale Reaktion auf Traumata, sondern es gibt tausende Reaktionen auf ein Trauma. Ich habe mich jetzt natürlich nicht mit der Person unterhalten und weiß nicht, welche Nuancen da alle mit reingespielt haben, aber auf den ersten Blick wirkt das für mich auch wie eine Bewältigungserfahrung.
Was man auch immer sagt, wenn man vom Pferd gefallen ist. Dann muss man direkt wieder aufsteigen, damit sich erst gar keine Angst aufbauen kann.
So kann man das natürlich auch angehen. Dass man sich nicht einschüchtern lässt, sondern sich damit konfrontiert und einfach weitermacht wie vorher. Es ist nicht immer die schlechteste Art damit umzugehen.
Es gibt Menschen, für die wäre das keine Lösung. Die wären in dem Moment total belastet und denen würde es sehr schlecht dabei gehen.
Es gibt sicherlich auch Menschen, die weitermachen, weil sie dissoziativ sind und nichts spüren. Aber es gibt auch Betroffene, die machen das im vollen Bewusstsein und ziehen das durch.
Ich empfehle es daher nicht sich zu hinterfragen, was denn nicht mit einem stimmt. Diesen Wahrnehmungsknick bekommen oft viele traumatisierte Menschen, weil ihnen das oft gesagt wurde.
So wie du reagierst, ist es genau richtig. Wenn es dir nicht guttut, wäre eine andere Strategie vielleicht besser. Wenn es für dich okay ist, spricht in meinen Augen nicht viel dagegen.
Mai: Ich genieße deine Art, dass erst einmal alles genau richtig ist, so wie es ist. Dass du nicht urteilst. Dass du der Fragenden ein ganz sicheres Gefühl gibst. Gleichzeitig wurde ich zuerst so wütend auf den Menschen in ihrem Umfeld, der meinte, es sei ja dann nicht so schlimm gewesen.
Ich finde, niemand kann sagen, wie schlimm oder nicht schlimm das ist.
Das haben wir auch ganz am Anfang des ersten Teils besprochen. Ein Trauma ist total subjektiv. Wenn da jetzt jemand herkommt und meint, es sei nicht so schlimm, würde ich sehr wütend werden.
Melanie: Ja, das kann ich nachempfinden. Das ist auch die nächste Traumatisierung. Es gibt schon mehrere Studien, wo geschaut wird: Warum reagieren Menschen, die ein ähnliches Trauma erlebt haben so verschieden? Warum sind die einen hinterher so belastet und warum geht es manchen Betroffenen ganz okay?
Das hat ganz viel damit zu tun, was nach dem Trauma passiert, ob du danach mit Menschen zu tun hast die dir mit Verständnis begegnen, die dir Wärme entgegenbringen. Die deine Sexualität akzeptieren. Leute, die nicht Werten, sondern zuhören und für einen da sind.
Wenn du in deinem Umfeld immer schräg gespiegelt wirst und dir die Leute noch einen reindrücken, dann kann das fatale Auswirkungen haben. Wenn dir nicht gesagt wird, dass der Fehler beim anderen liegt und du nichts falsch gemacht hast, kann die Verarbeitung sehr schwerfallen.
Dann kommt es viel eher zu Flashbacks oder zu anderen psychischen Erkrankungen, Depressionen und andere Traumafolgestörungen. Von daher, sei lieber wütend auf diese Person, die Schwachsinn redet, als auf dich selbst.
Mai: Wow. Das wusste ich auch nicht. Da einen Appell an alle Leser*innen die nicht betroffen sind. Ich habe ja auch einige Leser*innen, die in einer Partnerschaft mit Betroffenen sind, oder einfach nur am Thema interessiert sind.
Wenn ihr so etwas erzählt bekommt, habt Mitgefühl! Was eure Wertung in dem Moment ist, ist vollkommen egal.
Melanie: Einfühlsamkeit ist immer willkommen. Im Sinne von nachzuvollziehen, wie belastend es sein kann. Nachzuvollziehen, dass es wehtut. Gemeinsam schauen, was der Betroffene jetzt braucht.
Da nachzuhaken was man selbst jetzt tun kann, ist super. Vielen reicht es auch schon, es erzählt zu haben, dass jemand zugehört hat. Andere wollen vielleicht gehalten werden oder eine halbe Stunde allein gelassen werden. Das ist immer sehr individuell.
Das absolute Gegengift für Trauma ist Einfühlsamkeit und Respekt. Wenn man als traumatisierter Mensch solche Erfahrungen sammelt, ist das auch Heilung auf Beziehungsebene.
Heilung auf der Beziehungsebene wäre, wenn man Einfühlsamkeit und Unterstützung erlebt. Schaue dich einmal in deinem Umfeld um.
Tun sie dir weh, verunsichern sie dich? Bringen sie dich durcheinander oder sind deine Beziehungen so, dass du das Gefühl hast, du wirst gestärkt? Damit kannst du deine Heilung selbst in die Hand nehmen.
Umgib dich mit solchen Menschen und es wird dir besser gehen. Korrigierende Beziehungserfahrung nennt sich das.
Mai: Superschön.
Mai: Kommen wir zu meiner letzten Frage. Etwas länger aber auch sehr persönlich: “Kann der Körper auf Traumata reagieren? Mein Beispiel: Ich habe sexuelle Gewalt schon in jungen Jahren erlebt und danach nur sehr wenig Sex gehabt.
Was mir jetzt erst klar wird und mich in eine Krise stürzt. Nebenbei die Tatsache, dass ich ein Unternehmen führen muss und mich parallel irgendwie vor einem Burnout schützen möchte.
Ich bin übergewichtig aber lustigerweise trotzdem, laut meinem Blutwerten, sehr gesund. Mir wurde aber schon in jüngster Kindheit eingetrichtert, dass wenn ich dick bin, nichts wert bin.
Dicke Frauen möchte man nicht sehen und die haben niemanden. Seit meinem ersten Burnout nehme ich zu, ohne etwas an der Ernährung geändert zu haben.
Sport mache ich, so weit es meine Psyche zulässt, auch regelmäßig. Kann es sein, dass mein Körper mich vor weiteren sexuellen Übergriffen schützen will?
Vielleicht ist das “Dicksein” in meiner Psyche so stark als unattraktiv abgespeichert?”
Melanie: Lange Frage, lange Antwort. Eine Sache vorweg: Ich werde mich nicht erheben und sagen: “Ja, bei dir ist das so.” Ich kann aber allgemein ein bisschen erzählen.
Was immer wichtig ist, ist, dass, wenn es um körperliche Reaktionen geht, man einen Arzt hat, dem man vertraut.
Es können nämlich auch körperliche Aspekte mit reinspielen. Deshalb finde ich es wichtig, dass das im Gespräch mit einem Arzt ausgeschlossen wird.
Um auf die eigentliche Frage zu sprechen zu kommen: Ja das kann sein, dass traumatische Erfahrungen den Körper sehr stark beeinflussen.
Es gibt inzwischen eine fundierte Studie, die gezeigt hat, dass sehr unangenehme Kindheitserfahrungen, den Körper massiv durcheinanderbringen können.
Dazu gehören Gewalterfahrungen aller Art, die man als Kind machte. Emotionale, körperliche, sexuelle Gewalt oder wenn man miterlebt, dass die Eltern gewalttätig sind.
Wenn man in einer Familie groß wird, wo ein Angehöriger psychisch erkrankt ist, Kriminalität um einen herum ist und Leute ins Gefängnis gehen. Das wird alles unter den Begriff “adverse childhood experience” zusammengefasst.
Da gibt es gute Zusammenhänge, die in riesigen Studien in den USA belegt worden sind. Je mehr schlechte Erfahrungen man hat, desto höher ist das Risiko dafür, dass man Übergewichtig ist. Viele haben auch erhöhten Blutdruck, Herzerkrankungen, Schlaganfall, Krebserkrankung, Autoimmunerkrankung, chronische Schmerzen, Lebererkrankungen und Asthma.
Eine ganze Reihe von körperlich, nachweisbaren Erkrankungen, die bei Betroffenen sehr viel häufiger vorkommen. Die Studie ist so weit gegangen, dass sie geschaut haben, woran das liegt.
Trinkt ein traumatisierter Mensch mehr Alkohol und geht deshalb die Leber kaputt oder raucht man so viel und bekommt deshalb Asthma?
Das hat man mit verschiedenen Einflussfaktoren ausgerechnet. Am Ende ist herausgekommen, das ein Trauma einen Effekt hat. Umso mehr schlechte Erfahrungen man aus der Kindheit hat, desto höher ist das Risiko schwer zu erkranken.
Es wurde sehr drastisch geschrieben, aber unter Umständen kann es sein, dass du früher stirbst. Deshalb würde ich deine körperliche Reaktion nicht ausschließen. Man erklärt sich das über das Stresssystem. Stress wirkt sich auch auf andere Dinge im Körper aus.
Wenn mein Stresssystem ständig in Alarmbereitschaft ist, führt das dazu, dass man mehr Adrenalin im Blut hat und der Blutdruck steigt. Das Herz schneller geht, die Atmung anders ist.
Das heißt der Sympathikus ist sehr aktiv, der Parasympathikus soll eigentlich ausgleichen, ist aber auch durcheinander.
Mein Körper wird die ganze Zeit von Stresshormonen geflutet. Wenn diese Stresshormone chronisch immer da sind, dann kann sich das stark auf die Gesundheit auswirken. Übergewicht kann etwas zu tun haben.
Die Frage, ob Übergewicht vor Missbrauch schützt, kommt in Therapien immer mal wieder hoch. Ich kann das nicht von Studien belegen, aber ich habe oft gesehen, dass Menschen, die einen Missbrauch in der Kindheit erlebt haben, häufig übergewichtig sind. Längst nicht alle.
Aber schon so oft, dass ich oft den Eindruck habe, dass es manchmal eine Schutzreaktion ist. Es wird mir dann oft erzählt, dass es einen Täter in der Kindheit gab und als man etwas zugenommen hat, wurde von einem abgelassen. Also hat man immer mehr gegessen.
Manchmal ist es eine bewusste Erfahrung, manchmal eher unbewusst. Ich würde nicht so weit gehen, dass es automatisch bei jedem so ist, aber man kann sich mal prüfen, ob das vielleicht doch irgendwie mein Verhalten beeinflusst, dieses Schutzbedürfnis an der Stelle zu haben.
Beim Versuch abzunehmen können Stress und die Anspannung steigen. Manche Betroffene lassen dann auch die Diäten sein, weil sie diesen Spannungszustand, diesen Stress nicht ertragen.
Mai: Ich finde es superspannend, dass Studien schon so weit sind und das auch so detailliert untersucht worden ist. Bei mir war es nicht das Übergewicht, sondern ich hatte etwas burschikoses.
Wer will denn ein burschikoses Mädchen? Ich habe zum Beispiel seit Teenager Zeit immer kurze Haare gehabt. Auch mein ganzer Kleidungsstil war ganz unauffällig, schlicht und schwarz. Ich trag weder bunte noch besonders mädchenhafte Klamotten.
Und auch da dachte ich, dass ich eben der burschikose Kumpeltyp bin. Ich habe mir nach der Gerichtsverhandlung nur noch ein zweites Mal die Haare kurz machen lassen. Erst danach sind sie zum ersten mal wirklich gewachsen und ich hatte ein positives Bild der Weiblichkeit.
Meine Haare sind jetzt schon schulterlang. Inzwischen habe ich auch ein paar Kleidchen. Für mich ist das gerade alles ganz neu.
Sehr lange habe ich mir die Weiblichkeit verwehrt. Mir ist mittlerweile klar, dass dies eine Schutzstrategie war.
Melanie: Das kenne ich tatsächlich auch von vielen anderen Betroffenen. Manchmal wird sich ganz viel tätowiert. Die Haare werden blau oder grün gefärbt und man trägt so gut wie nichts Enganliegendes.
Eine andere Schutzstrategie, die ich oft sehe, ist, dass viele betroffene Frauen, bei denen es einen männlichen Täter gab, sich mit einem Mann an ihrer Seite nie sicher fühlen könnten.
Mit einer Frau als Partnerin fühlt sie sich dann aber sicher. Manchmal finden deshalb zwei traumatisierte Frauen zueinander, die Sexualität nicht möchten, aber gerne einen Partner haben.
Da muss man auch wieder vorsichtig sein und nicht sagen, wärst du nicht traumatisiert, wäre das alles anders. Nein das ist die eigene, selbstbestimmte Entscheidung. Man entscheidet für sich und natürlich ist das in Ordnung.
Aber spannend, dass sich das bei dir geändert hat.
Mai: Wir haben schon ganz viele Tipps und Tricks zwischendrin mal angesprochen. Wo kann man sich Hilfe holen, wenn man das Gefühl hat, dass man Hilfe braucht?
Wie finde ich einen Therapeuten, der mich behandeln kann, wenn ich einen Missbrauch erlebt habe? Wie entscheide ich, ob ich jetzt einen Traumatherapeuten oder einen Sexualtherapeuten nehme, weil die Kombi wie du sie anbietest, ist ja sehr unüblich und du hast auch schon eine Warteliste.
Melanie: Es gibt inzwischen auch einige Kolleginnen und Kollegen, die sich da weitergebildet haben, die beides anbieten. Sonst muss man sich durchrufen und durchfragen. Ich finde es wichtig, wenn man Gewalterfahrungen in der Kindheit gemacht hat, man zu einem erfahrenen Traumatherapeuten geht.
Es gibt unendlich viele Psychotherapeuten, die unendlich viele verschiedene Ausbildungen gemacht haben und viele haben keine richtig gute Traumatherapie Ausbildung gemacht.
Solche Traumatherapeuten kann man bei der DEGPT finden. Da gibt es ein Therapeuten Verzeichnis.
Das hat leider auch seine Grenzen. Manchmal gibt es vielleicht keinen Therapeuten in der Nähe, oder die Wartezeiten sind lang.
Es ist auch immer wichtig, dass es zwischenmenschlich passt. Wenn man das Gefühl hat, es funktioniert nicht so richtig, finde ich es wichtig darauf zu achten. Was man auch machen kann, ist, sich in Traumaambulanzen in größeren Städten einen Beratungstermin machen zu lassen.
Glücklicherweise werden durch Corona oft auch Videosprechstunden angeboten. Was natürlich geschickt ist für Leute, die weit weg wohnen.
Wo man auch schauen kann, ist bei “Emdria”, da muss man aber schauen. Gerade bei Dissoziation, dass Therapeuten dabei sind, die wissen wie man das spezifisch behandelt.
Sonst kann es sein, das man jahrelang am Ziel vorbeitherapiert und nicht weiter kommt. Am besten immer Fragen und sich einen Überblick verschaffen, was bei einem selbst alles vorliegt.
Vielleicht auch mal als Orientierung ein Diagnostikgespräch in einer Traumaambulanz machen.
Das wären Anlaufstellen, wo man meistens sicherstellen kann, dass genügend Erfahrung da ist. Wenn man gar niemand anderen findet: Es gibt genügend Therapeuten die keine Traumatherapie Ausbildung haben, aber schon Erfahrung damit gemacht haben und bereit wären, sich einzuarbeiten, um sich weiterzuentwickeln.
Vorsichtig wäre ich tatsächlich mit klassischer Psychoanalyse. Es gibt aber auch Psychoanalytiker*Innen, die ihre Arbeitsweise verändert haben.
Das kann funktionieren, aber ansonsten wäre ich da sehr vorsichtig und würde gut prüfen, ob einem das guttut oder nicht. Zu dem Thema, was man ambulant machen kann, da gibt es natürlich eine ganze Reihe an sehr guter Kliniken.
Das sind Kliniken, die auch mal dreimonatige intensivere Arbeit möglich machen. Oder auch wiederholt Aufenthalte hat, um mit bestimmten Themen voranzukommen, um sich wieder zu stabilisieren.
Dabei sollte man aber auch nach einer Klinik Ausschau halten, die ein gutes therapeutisches Konzept hat. Gerade wenn man in der Kindheit, für längere Zeit komplex traumatisiert wurde.
Dass man da einfach schaut welche Klinik behandelt Menschen, die komplexe Traumafolgestörungen haben und nicht “nur” eine PTBS nach einem Autounfall.
Das ist ein Riesenunterschied, und es gibt dann ganz andere Therapiekonzepte. Einfach nach psychosomatischen Kliniken, psychiatrische Kliniken im Internet schauen. Die ihren Schwerpunkt auf Traumata legen.
Trotzdem sollte man immer spezifisch nachfragen, sodass man nicht drei Monate seines Lebens verschwendet bzw. nicht wirklich vorankommt. Ich kann auch ein paar Kliniken nennen, die gut sind, die haben teilweise aber sehr lange Wartezeiten. Deshalb ist es wichtig, sich früh genug zu melden.
Mai: Ich glaube wir haben schon sehr viel Handwerkszeug sammeln können und hoffentlich auch mit Gefühl rübergebracht. Danke für all diejenigen die bis hierher gelesen haben. Meine Fragen sind rundherum beantwortet.
Melanie ich danke dir von ganz großem Herzen für deine Zeit, es ist für mich eine große Ehre. Ich bin sehr dankbar, dass du mit deinem unglaublich großem Fachwissen, und deiner Empathie dieses Projekt so bereichert hast.
Melanie: Vielen Dank auch an dich Mai. Es hat mir große Freude bereitet und ich hoffe, dass wir den Leser*innen helfen konnten.
Das war der zweite Teil des Interviews mit Melanie Büttner. Wenn du den ersten Teil noch nicht gelesen hast, schaue gerne hier rein.
Bis bald! Deine Mai 💛
P.S. Fandest du den Artikel hilfreich? Dann würde ich mich riesig freuen, wenn du mich dabei unterstützt, dass die Blog- und Podcastinhalte weiterhin kostenlos bleiben. Erfahre hier, wie du mit nur 6€ im Monat zum*zur Unterstützer*in werden kannst.
Hi, ich bin Mai 😊 Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht Opfern sexuellen Missbrauchs zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Auch wenn eure Scham und Angst etwas anderes erzählen: Das ist nicht wahr! Und es kommt noch besser: Der richtige schöne Teil eures Lebens liegt noch vor euch! Ich habe es geschafft, aus dem schlimmsten Erlebnis meines Lebens, eine enorme Kraft zu ziehen & mein Leben nach meinen Ideen neu zu gestalten - also kannst du das auch! Deine Mai 💛
Sitzung abgelaufen
Bitte melde dich erneut an. Die Anmelde-Seite wird sich in einem neuen Tab öffnen. Nach dem Anmelden kannst du das Tab schließen und zu dieser Seite zurückkehren.