Kann man einem Täter, der ein Kind vergewaltigt hat, überhaupt vergeben? Wie fühlt sich ein Opfer noch Jahre nach der Vergewaltigung? Wie zeigt sich das Trauma im täglichen Leben und wie löst man es wieder auf?
Es gibt einige Wege und in diesem Interview erzähle ich dir, wie ich es geschafft habe durch meine Therapie (und die Gerichtsverhandlung - siehe Teil 2) dem Täter zu vergeben und eine 180 Grad Transformation zu durchleben. Seit dem fühle ich mich frei! Ich hoffe, dieser Artikel hilft Dir weiter, Deinen Weg zu finden!
Eva Nitschinger ist Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und hat die DSS die Selbstliebe Schule in die Welt gebracht. Schau gerne hier bei Ihrem Podcast vorbei. Hier gehts zum zweiten Teil, solltest Du den noch nicht gelesen haben.
Eva: Hallo ihr Lieben. Ich freue mich heute ganz besonders, die liebe Mai wird heute ein interessantes und ehrliches Gespräch mit mir führen. Vorweg eine kleine Warnung, da ich einige Anfänger in dem Bereich Spiritualität und Aufwachen unter meinen Lesern habe.
Wenn du mit sexuellem Missbrauch oder Vergewaltigung in deinem Leben zu tun hattest, vor allem in der Kindheit und noch nicht bereit bist ehrlich, offen und direkt darüber zu sprechen. Dann lass diesen Artikel einfach aus und sei nächstes Mal wieder mit dabei.
Wir beide werden nämlich ganz ehrlich und offen reden und uns auch weder selber, noch andere in Schutz nehmen. Dies nur im Voraus damit du jetzt für dich entscheiden kannst, ob du weiter lesen möchtest oder nicht.
Mein Tag ging heute nur um Mai, ich hab noch mal in das Video reingehört, welches mich vor ein paar Wochen, auf Facebook, total geflasht hat. Dort erzählt Mai über ihre Gerichtsverhandlung. Es war das letzte oder vorletzte Video über die Gerichtsverhandlung mit dem Mann, den die Welt Täter nennt.
Mit dem Mann, der sie, als Kind, sexuell missbraucht und vergewaltigt hat. Sofort habe ich Mai um ein Interview gebeten und sie hat ja gesagt. Außerdem habe ich Ihren Podcast über Acro-Yoga angehört, der heute zufällig herausgekommen ist, wo Du auch noch gerne kurz was dazu sagen kannst, da dies einige von meinen Lesern sicher nicht kennen.
Ich kannte Acro-Yoga bis vor zwei Jahren auch nicht. Das Gleiche mit Polyamorie, was ist das eigentlich? Ich freue mich total auf unser Gespräch und bin super gespannt was wir alles gemeinsam erfahren dürfen.
Stell Dich gerne vor und erzähl über Deine Tätigkeit, über Deinen Weg und natürlich auch über das Thema, über das wir heute reden. Dem Täter vergeben. Wie geht das?
Mai: Danke für die Einladung, liebe Eva. Mein Name ist Mai Nguyen. Ich fange am besten von hinten an, wo du mir gerade eine schöne Steilvorlage gegeben hast.
Meine neue Podcast-Folge: Polyamorie und Acro-Yoga. Wie passt das zusammen? Was gibt es da für Gemeinsamkeiten? Tatsächlich zwei meiner Lieblingsthemen.
Zum einen Acro-Yoga, ich bin seit drei bis vier Jahren Acro-Yoga und Thai-Massage Lehrerin.
Acro-Yoga ist eine Sportart, die sich aus Akrobatik und Yoga zusammensetzt. Daher der Name Acro-Yoga. Optisch kann man sich das vorstellen, wie Partner Akrobatik. Zwei Menschen turnen miteinander, aufeinander rum oder jemand fliegt auf den Füßen des anderen.
Kann man sich so ein bisschen vorstellen wie, als man als Kinder mit den Eltern Flieger oder Flugzeug gespielt hat, nur das es heute erwachsene Menschen sind, die das miteinander machen. Das unterrichte ich seit einigen Jahren.
Zum anderen, eines meiner Herzensthemen, die Polyamorie. Der Begriff setzt sich auch wieder aus zwei Sachen zusammen. Poly: viel, Amorie: Liebe, also einfach: viel Liebe.
Wenn man recherchiert: Es ist ein Kunstwort, welches in den 90er-Jahren entstanden ist, als Gegenbewegung zur klassischen Monogamie, zum klassischen Disney und Hollywood. Was vorgibt, wie Liebe und Beziehung sein muss, sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende.
Eva: Auf das der Tod euch scheidet.
Mai: Genau und man hat nie einen Blick für jemand anderen und so weiter und sofort. Unter Polyamorie kann man so ziemlich alles stehen. Es gibt offene Beziehungen.
Es gibt auch geschlossene Beziehungen, welche aber gemeinsam in Swingerklub gehen oder Partnertausch machen. Ganz banal könnte man auch Dreieck-, Viereck-, Beziehungen als Polyamorie benennen.
Für mich ist an Polyamorie spannend zu sehen, dass es noch so viel mehr gibt, als diese eine romantische Liebe zu einer Person. Das sind so zwei meiner Baby-Themen die ich einfach sehr liebe, sodass ich tatsächlich diese Woche eine Podcast-Folge gemacht habe, wo ich beide Themen kombiniert habe.
Um an den Anfang deiner Erzählung zu kommen, zu sexuellem Missbrauch, den ich selber in relativ jungen Jahren erlebt habe. Mein drittes, großes Thema, ein nicht so sehr schönes und ästhetisches Thema.
Der erste Fall hat zwischen 8 und 10 Jahren, der letzte mit 14 Jahren stattgefunden. Es waren mehrere Fälle und immer vom gleichen Mann. Und ich habe das Thema sehr lange verdrängt.
Im Gegensatz zu anderen Opfern habe ich es nicht komplett vergessen habe, dass es nicht präsent war, sondern ich habe gewusst, dass es da war.
Um es bildlich darzustellen, habe ich es in einen Schuhkarton gepackt und in die hinterste Ecke meines Erinnerungs-Dachbodens gestellt und dort liegen lassen.
2016 war ein großes mediales Jahr, was das Thema Missbrauch anging. Ich weiß nicht, ob ihr das mitbekommen habt, aber das war das Jahr, in dem der Hashtag “MeToo”, Hashtag “Aufschrei” ganz groß war.
In diesem Jahr ging der Fall von Gina-Lisa Lohfink, die damals aus Germany’s next Topmodel bekannt war, groß durch die Medien.
Das Jahr hat mich sehr geprägt. Ich habe bei vielen Themen mitgefiebert, besonders bei der Gina-Lisa. Man kann zu ihr stehen wie man will, und zu den Äußerlichkeiten. Aber was der Frau passiert ist, war unmenschlich.
Ich habe bei dem Fall damals so mitgefiebert und für mich war klar, dass die Typen verknackt werden. Irgendwie bin ich bei ihr auch auf dem Trittbrett mitgefahren und habe für mich beschlossen das dies jetzt der letzte Beweis dafür ist, dass unser Rechtssystem funktioniert, wenn die beiden Täter verknackt werden und ich dann den Typen Anzeigen werde, der mich missbraucht hat.
Es kam alles komplett anders, die beiden Typen wurden nicht verknackt, stattdessen hat sie sogar noch eine Anzeige bekommen, wurde auf Verleumdung verklagt und musste Strafe zahlen.
Meine Welt ist damals komplett zusammengebrochen. Das wollte ich nicht wahrhaben, ich war traurig und dachte, dass ich ihn jetzt auf gar keinen Fall anzeigen kann.
Ab dem Moment hat es im Endeffekt, nach nur ein paar Tagen, das Gegenteil bewirkt. Ich war so wütend, das war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Jetzt erst recht. Keine Ahnung was dabei rauskommen wird, aber ich hole mir Hilfe.
Ich hatte mich an den Weißen Ring gewendet, eine sehr große, deutschlandweite Opferschutz-Organisation. Habe mir Hilfe geholt und habe den Typen angezeigt. Das ist jetzt drei Jahre her.
Eva: Hast du in dir gespürt, dass dies dein Weg ist? Dass du es machst, egal was dabei rauskommt? Was wolltest du? Gerechtigkeit, dass die Welt dies sieht oder das deine Eltern die Wahrheit kennen? Weißt du, was genau du mit der Anzeige erreichen wolltest?
Mai: Das ist eine unglaublich vielschichtige Frage. Zu dem Zeitpunkt habe ich zum ersten Mal realisiert, dass wenn dieser Mensch wirklich pädophil ist, dann tut er das nicht, weil er ein böser Mensch ist, sondern weil er diese sexuelle Neigung hat und in Anführungsstrichen: Nichts dazu kann bzw. die Selbstbeherrschung nicht hat, zu sagen: Nein stopp, damit tue ich jemandem weh, das darf ich nicht tun.
Witzigerweise hatte ich schon ein paar Jahre vorher, als ich für mein Studium ausgezogen bin, bei Kinder-Zeltlagern als Helfer gearbeitet. Dort hatte es bereits Awareness-Training,
Wie erkenne ich, dass ein Kind sexuell missbraucht wurde? Welche Verhaltensweisen hat ein Kind und was ist die Psychologie des Täters? Da hab ich diese Themen schon gelernt, dass das in der Regel Wiederholungstäter sind, dass man ihnen Einhalt gebieten muss.
Als ich das damals alles Anfang 20 gelernt habe, war ich so dissoziiert. Fachlich habe ich alles aufgenommen, das Thema war mir vollkommen klar. Es gab dann auch tatsächlich auch ein Kind, wo bekannt war, dass der Vater Umgangsverbot mit dem Kind hatte und bei einem anderen Kind war vom Verhalten her klar, dass es sexuell missbraucht wurde, man wusste nur nicht, was passiert ist.
Dafür ist ja auch ein Zeltlager nicht da, das übersteigt ja auch die Kompetenz. Aber es zu wissen, dass den Kindern was passiert ist und das man mit den Kindern anders umgehen muss. Die Kinder haben mich so mitgenommen und trotzdem war ich so dissoziiert, dass ich das nicht mit meinem Fall in Verbindung gebracht habe.
2016 hat es dann geknallt. Ich habe das Problem verstanden und mich gefragt: Scheiße, wie viele Kinder hat der noch angefasst, wie vielen hat der noch wehgetan, wie viele Kindheiten hat der noch versaut? Und vor allem: Wie viele wird er noch versauen, wenn man ihm nicht sagt: Stopp, das ist falsch.
Da war dann bei mir irgendwie das Verantwortungsgefühl einfach so groß und so getriggert, dass ich mir gesagt habe: Ich hab keine Ahnung, ob ich die Zehnte bin, die ihn anzeigt oder die erste aber ich habe die Verantwortung ihn anzuzeigen, als Mensch, als große Schwester, als Tochter, als Freundin.
Ich muss das tun, um andere potenzielle Opfer zu schützen, ob es welche gibt, wusste ich nicht, aber wenn ich die Zehnte bin, hab ich einen leichten Weg, wenn ich die ersten bin, mache ich es den anderen leichter und wenn ich Einzige bin, ist noch schöner.
Eva: Also keine Rache Motive, sondern Verantwortung als Hauptmotiv.
Mai: Das war tatsächlich mein hauptsächliches Motiv. Es ist wie gesagt vielschichtig. Ich hatte unglaubliches Glück sehr schnell einen Therapieplatz zu bekommen.
Eine Woche nach der Anzeige hatte ich schon meinen ersten Gesprächstermin bei meiner Therapeutin, welches so gut gepasst hat, dass wir gesagt haben wir möchten weiter zusammen arbeiten.
Klar kam in der Aufarbeitung dann auch Wut und Rache auf und die Gedanken: Hoffentlich schmort der für Jahre im Gefängnis. Klar solche Gedanken sind da. Wut, Trauer und Angst, alles gleichzeitig.
Eva: Du hast in der Therapie dann, Gott sei Dank auch noch andere Gefühle gefühlt sonst wäre es ja fast unmenschlich gewesen, wenn du das nur aus Verantwortungsgründen gemacht hättest. Das wäre schon ein bisschen oberflächlich gewesen.
Du bist ja schon noch richtig rein in die Scheiße um das sozusagen. Und als du gerade auch mit sexuell misshandelten Kindern gearbeitet hast, wie du vorhin schon gesagt hast, hast du ja gesehen, wie wütend die waren, Rachegedanken hatten, verletzt, hilflos und ja sich selbst ausgeliefert waren.
Mai: Also Scheiße trifft es ziemlich gut. Ich bin, mit Anlauf knietief in die Scheiße rein. Ich hätte nie gedacht, was das alles mit einem macht. Damals habe ich relativ blind angezeigt.
Ich hatte keine Vorstellung davon, was es psychisch mit einem macht. Ich hatte keine Ahnung davon wie der Prozess einer Anzeige verläuft.
Das war für mich absolut fraglich. Und bis ich überhaupt das Gespräch mit dem Weißen Ring hatte, wusste ich nicht mal ob, das schon verjährt ist oder nicht. Ich bin komplett blind, mit verbundenen Augen und Anlauf rein. Von da an ging es erst einmal richtig krass bergab.
Ich hatte letztens erst mein erstes Zeitungsinterview und da kam eine ähnliche Frage auf. Anscheinend haben die meisten Menschen das Bild im Kopf, wenn man dann mal angezeigt hat und in die Psychotherapie geht, dann geht alles bergauf und dann ist alles gut.
Da musste ich dann lächelnd korrigieren. Dann gehts erst richtig los, dann kommt es erst einmal zur Bearbeitung der ganzen Themen, die ich nie sehen wollte.
Eva: Darf ich dich noch kurz einmal zwischendurch was fragen, denn ich glaube, das wird auch für viele Leser interessant sein. Das ist so wertvoll, wenn ein betroffener Mensch davon erzählen kann:
Du sagst, du hast das Problem weggepackt. Das kenne ich auch von ganz vielen meiner Klienten. In meiner Praxis ist es sehr selten, dass das jemand weiß. Die meisten sagen, relativ emotionslos, dass ihnen das passiert ist, sie aber drüber weg seien.
Es erledigt sei und es war ja gar nicht so schlimm. Kannst du mal beschreiben wie dein Leben vorher und während Therapie aussah, als dann die Gefühle alle wieder hochgekommen sind?
Hast du vorher oder jetzt auch im Nachhinein bemerkt, dass du viele Dinge vermeidest, um nicht unnötig getriggert zu werden, und sie deswegen sehr stark abwehrst?
Mai: auch da wieder Vielschichtigkeit. Das Erste, was mir bei deiner Frage kommt, ist die Ritterrüstung. Bis ich mit der Therapie angefangen habe, hatte ich ein Selbstbild von mir als die Powerfrau.
Ich hab mein Leben, seit ich auf der Welt bin eigentlich selber gestemmt. Klingt jetzt irgendwie krass, aber ich bin als Migrantenkind, also im Bauch meiner Mama, hierher nach Deutschland gekommen.
In Deutschland geboren worden und meine Eltern haben die Sprache sehr rudimentär gesprochen, sodass ich mit 6 Jahren, besser Deutsch sprechen konnte als meine Mutter.
Ich dann schon irgendwie Mutter für meine beiden kleinen Schwestern war, die vier und sechs Jahre jünger sind als ich. Ich mit meiner Mama Behördengänge gemacht habe, Behördenbriefe übersetzt habe, welche manche Erwachsene bis heute nicht verstehen und ich als kleines Kind musste die eben erklären.
So lief mein gesamtes Leben. Ich habe in erster Generation ein gutes Abi gemacht. Ich habe mir einen dualen Studienplatz erkämpft, wo 200 Bewerber auf einen Platz kamen. Ich habe noch einen berufsbegleitenden Master, einen MBA in den USA gemacht.
Ich habe Karriere, im Großunternehmen gemacht. Bis zur Anzeige habe ich im Management, in der strategischen Planung gearbeitet und regelmäßig Anzug getragen. Das war damals mein Selbstbild von mir.
Eva: Also du hast immer schon viel Verantwortung getragen und Verantwortung übernommen. Du hast dich dabei auch sicher gut gefühlt, zu wissen das alles gut zu können und dabei aber deine stillen und leisen Gefühle überhört?
Mai: komplett. Verletzlichkeit gab es überhaupt nicht. Letztendlich hatte ich auch den perfekten Beruf ausgewählt, wo man mit den Ellenbogen herumläuft, bloß nicht authentisch sein. Denn sonst könnte man Schwäche zeigen, weinen und Emotionen haben.
Mischt sich aber auch damit, dass ich auch mit der asiatischen Kultur aufgewachsen bin, wo Emotionen einen ganz anderen Stellenwert haben. Man zeigt keine Emotionen auch nicht innerhalb der Familie. Das hat sich bei mir dann eben auch noch stärker in diese Kerbe reingeschlagen.
Wenn ich früher irgendwelche Emotionen hatte, die ich als negativ bewertet habe, egal ob es irgendwie Verletzlichkeit, Trauer, Einsamkeit oder Schwäche. Egal welches negative Gefühl ich da empfunden habe, habe ich gesagt: Ach ich bin aber emotional.
Das war für mich alles ein Topf. Emotionen, die ich früher nicht haben wollte, konnte ich nicht auseinander differenzieren und ich wollte es auch nicht. Ich habe einfach alles Emotionale zur Seite geschoben.
Ich habe Menschen auch immer nur bis zu einem gewissen Grad an mich herangelassen. Sie kamen immer nur bis zu dieser Ritterrüstungen und aber nie zu mir, zu meinem Herzen.
Ich sage immer, ich bin ein introvertierter Extrovert. Also ich gehe sehr gerne raus, habe gerne viele und laute Menschen um mich, viele Veranstaltungen, aber ab und zu brauch ich mich eben auch allein in meinem Zimmer mit meinen Büchern.
Trotz all dieser Menschen habe ich mich immer einsam gefühlt. Nie habe ich jemanden so nah an mich herangelassen, da ich Angst hatte das, wenn ich jemanden durch die Ritterrüstung durchlasse, derjenige dann sehen kann wie unglaublich schwach, traurig und einsam ich wirklich bin.
Deswegen habe ich nach außen hin, ein sehr erfülltes, lautes und tolles Leben geführt. Im Innern war ich einsam und allein.
In Momenten, wo ich emotional geworden bin, wo es zu Trigger Situationen kam, zum Beispiel durch einen Zeitungsartikel zum Thema Vergewaltigung oder dass mal jemand einen vermeintlichen Witz gemacht hat, hat sich bei mir alles zusammengezogen, kompletter Tunnelblick.
Der Trigger war zu hundert Prozent da, auch wenn ich mir den nicht eingestanden habe. Ich bin in den Tunnelblick, komplett auf Freeze und habe einfach gewartet bis diese Situation vorbei ist.
Gleichzeitig bin ich, witzigerweise auch in eine Gegenbewegung gekommen, dabei auch wieder dieses wegschieben des Problems. Ich bin total in das Thema Feminismus, Frauenarbeit eingestiegen, um auch wieder etwas dagegen zu tun.
Diese Powerfrau sein, total dissoziiert. Ich Gender mit Sternchen und damals, vor sechs-sieben Jahren war das noch unüblich und uncool. Ich habe mich ganz viel mit feministischen Themen und auch mit Missbrauch auseinandergesetzt aber eben nicht genau mit meinem Thema.
Noch ein Thema, das mit der Vielschichtigkeit spannend ist. In der Sexualität bin ich auch wieder volle Kanne voraus um nicht in der Opferrolle und in der Angst zu bleiben. Ganz viele haben diesen Opferstereotypen im Kopf: Ein Opfer das apathisch in der Ecke sitzend, wackelt ein bisschen vor und zurück.
Ein Opfer wollte ich nie sein, ich wollte nie Angst vor Männern oder Angst vor Sex haben. Ich bin da auch volle Kanne rein. Ich habe viel und guten Sex gehabt. Sowohl bedeutungslose One-Night-Stands, mit Männern, die ich auf Reisen getroffen habe, als auch unglaublich schönen, liebevollen und erfüllten Sex mit Partnern.
Bin auch in die Polyamorie rein, habe auch mit mehreren Partnern Swingerklubs ausprobiert. Lothar Frei, die Autorin der Swinger Bibel habe ich bei ihr zu Hause interviewt. Also wirklich BDSM Bondage. Ich bin in alle möglichen Themen rein, wo man eigentlich sagen würde das, dass ein Opfer, welches missbraucht wurde nicht tun kann, kann doch kein erfülltes Sexualleben haben.
Da bin ich volle Kanne dagegen an, ich dachte mir jetzt erst recht. Das kann mir keiner nehmen und erst recht nicht der Typ der, der Meinung ist, als erwachsener Mann ein kleines Mädchen missbrauchen zu müssen. Da auch wieder in der Kraft, volle Kanne vorwärts vergessen, wie es mir eigentlich geht.
Eva: Du würdest tatsächlich sagen eine erfüllte Sexualität gehabt zu haben?
Mai: Ja.
Eva: Das ist spannend, da das auch viele denken, dass dies nicht sein kann. Es kann sein, es kann alles sein. Was wir auch mit dem Interview sagen wollen: Es kann immer alles sein. Es gibt keine: die Opfer, die Täter. Das muss man einfach neu lernen und neu verstehen.
Mai: Um eine grobe Skizze zu zeichnen, das war vor der Anzeige, nach der Anzeige hat sich wirklich alles verändert. Das Aufarbeiten mit der Therapie. Erst einmal das Erkennen, dass Emotionen ihren Raum haben dürfen. Alles, was ich an ungewollten Emotionen hatte, hatten bei mir keine Daseinsberechtigung.
Erst in der Therapie, mit meiner Therapeutin, hab ich lernen dürfen, dass die da sein dürfen. Zu der Zeit bin ich gerade mit einem neuen Mann zusammen gekommen, mit dem ich bis heute auch noch zusammen bin, dem Oli, der aus einer komplett anderen Welt kommt.
Gefühlt sind wir zwei Aliens aus zwei komplett unterschiedlichen Galaxien, die aufeinandergestoßen sind. Ich, aus dieser strikten Businesswelt und er aus der Hippie-Esoterik Szene, wie wir immer so schön zu Pflegen sagen.
Er ist mit Frau und Kind im Bus, ohne Geld, durch Spanien gereist und hat Musik gemacht. Hat richtig abgefahrene Sachen gemacht wie, Rainbowgathering und ist auf anderen Hippie-Events herumgeturnt.
Heiler und Schamanen waren für ihn alles ganz normale Begriffe, währenddessen ich die das nur aus Fantasy Romanen kannte. Ich bin unglaublich dankbar das wir durch Acro-Yoga, zueinandergefunden haben.
Ich habe viel von ihm lernen dürfen, ich hatte das Gefühl, eine neue Sprache gelernt zu haben. Die Sprache heißt Emotionen und Gefühle. So banal das klingt, aber ich konnte früher, wenn ich was gespürt habe, es keinem Wort zuordnen.
Für Trauer habe ich die Körper-Empfindung gehabt und habe auch gemerkt was Trauer mit einem macht, aber ich konnte nicht sagen: Ich bin traurig. Die ganzen fröhlichen Sachen gingen aber Trauer, Einsamkeit, Verletzlichkeit usw. all die Dinge konnte ich nicht benennen.
Hat sich ein bisschen angefühlt wie ein Kleinkind welches Karteikarten in die Hand bekommt und lernt Emotionen zu verstehen. Und das konnte ich bis dahin nicht verstehen. Ich habe mit Mitte zwanzig komplett neu lernen dürfen, wie sich fühlen anfühlt, wie man Gefühle benennt und ausspricht.
Nach dem Erkennen eines Gefühls war dann der nächste Schritt zu sagen: Ich bin traurig. Ein riesiger Schritt. In dem Moment, in dem ich das ausspreche, mache ich mich total verletzlich, ich gebe einem anderen die Möglichkeit Macht über mich zu haben.
Derjenige kann draufhauen oder mich in Arm nehmen. Und das war für mich früher sehr unheimlich. Das Thema Verletzlichkeit. Deswegen ist das auch mein viertes großes Thema. Ich habe diese vier großen Themen, wo ich festgestellt habe, dass ich immer wieder auf diese zurückkomme.
Da hat mich der Ted-Talk von Brené Brown unglaublich begeistert. Sie ist Forscherin aus den USA. Sie ist die Ikone für das Thema Scham und Verletzlichkeit, zwei der vermutlich am wenigsten sexy Forschungsthemen der Welt, wie sie immer sagt aber so großartig: Verletzlichkeit macht stark, heißt der Ted-Talk.
Erst in dem Moment, in dem ich ihren Talk gesehen habe, ca. zwei, drei Monate nach der Anzeige habe ich verstanden, was ich mein ganzes Leben lang getan habe.
Ich habe Verletzlichkeit vermieden. Genau diese Metapher der Ritterrüstung benutzt sie auch und sagt, dass wir Angst haben unsere Verletzlichkeit zu zeigen, der Mensch bauen sich diese Mauer, diese Ritterrüstung auf und lassen niemanden rein.
Dahinter ist die echte Mai, dahinter ist die verletzliche Mai mit all dem, wie sie ist und davor ist eben nur das Bild der Mai, in der Ritterrüstungen in ihrem Business-Anzug.
In dem Moment, in dem ich mich aber nie zeige, können die Menschen nur die Rüstung sehen und nur diesen Menschen lieben, mögen und auch nicht mögen.
Da habe ich erst verstanden, warum ich all diese Jahre so einsam war, warum ich mich zwischen all den Menschen so alleine gefühlt habe. Ich habe nie jemanden an mein Herz gelassen. Die mochten die Person, die sie sehen konnten. Aber sie mochten nicht die Person dahinter, weil ich sie nie gezeigt habe.
In dem Moment, in dem ich das verstanden habe, hat es bei mir so viele Sicherungen rausgehauen, da habe ich dann angefangen mit meinen Themen öffentlich zu gehen. Ein paar Monate habe ich mich komplett vor Kollegen und Freunden “versteckt”.
Nur meine engsten Freunde und Kollegen wussten, was mit mir los war und warum ich nicht mehr zur Arbeit und Events gegangen bin.
In der Heilung, in der Genesung hab ich dann verstanden, dass es genau um das Gegenteil geht: Die Ritterrüstung wegfallen zu lassen und sie nicht noch größer und dicker aufbauen zu wollen.
Langsam habe ich dann angefangen, nicht nur dem engen Kreis, sondern auch Freunden und Bekannten davon zu erzählen. Mich verletzlich zu machen, die Rüstung aufzubrechen. Der nächste Schritt war dann online zu gehen.
Da fing dann, vor zwei bis drei Jahren meine “Social Media Karriere” an. Angefangen über das Thema, welches mich damals beschäftigt hat, posttraumatische Belastungsstörung, Burn-out und Depression.
Was das mit einem macht, wie es einem dabei ergeht. Online, ein öffentliches Tagebuch geführt und den Leuten ganz öffentlich gezeigt, wie es mir geht und was es mit mir macht.
Die Resonanz war unglaublich.
Sowohl im Freundes- und Bekanntenkreis als auch online. Vom ersten Tag an als ich angefangen habe mich zu öffnen, diese Ritterrüstungen zumindest immer ein kleines Stückchen weiter abzulegen, um zu schauen: Haut jetzt gleich einer darauf? Ist das nie passiert.
Es kam in den letzten paar Jahren nie vor, dass einer negativ mir gegenüber war geschweige denn mit dem Finger in die Wunde reindrücken wollte.
Es ist nie passiert, dass es nicht honoriert wurde. Die meisten haben es bewundert und nachgehakt oder sind dann noch einen Schritt darüber hinaus und haben sich mir auf einmal auch geöffnet.
Das ist etwas, was die Brené Brown in dem Video sagt: In dem Moment in dem der erste Ritter seine Rüstung und seinen Schild ablegt ermöglicht er anderen das gleiche Gefühl zu geben.
Seitdem habe ich so viele echte und tiefe Freundschaften, sogar Verbindungen zu Menschen, die ich im Leben noch nie in echt gesehen habe. Ich bin mit so vielen Leuten in Kontakt, die ich wahrscheinlich irgendwann mal sehen werde und es sicherlich mal zu einer Verabredung kommt.
Diese tiefe Verbindung mit Freunden, mit Bekannten, mit Unbekannten hat mein Leben so sehr bereichert, das ich es gar nicht mehr missen will. Gerade letzte Woche habe ich ein tolles Feedback von einer Kundin bekommen. Sie ist sowohl einer meiner Acro-Yoga und Thai-Massage Schülerinnen als auch gute Freundin.
Ich wollte wissen, was mich als Lehrerin auszeichnet. Warum die Schüler zu mir kommen. Und sie meinte, dass es meine radikale Offenheit ist und meine Authentizität die ihr so gefällt.
Am Anfang war sie vollkommen irritiert davon das ich zum Beispiel bei einem Event, mit 30-40 Leuten, den Redekreis damit eröffnet habe, dass ich heute ein bisschen Low-Energy bin da ich meine Tage habe, aber ich mich trotzdem freuen würde hier zu sein und ihnen jetzt coole Sachen beizubringen.
Von solchen Sachen war sie so irritiert, weil das sonst niemand macht. Mittlerweile schätzt sie aber genau das so sehr an mir, weil sie durch diese Irritation auch lernen konnte.
Es hat ihr System so sehr verwirrt, dass sie die Möglichkeit hatte, zu überlegen und sich mittlerweile davon auch Dinge abschauen konnte.
Eva: Also kann man sagen, dass du durch das, was dir passiert ist, durch den Schritt den Täter anzuzeigen und dann in Therapie zu gehen ein großartiges Geschenk bekommen hast.
Die Möglichkeit, dein Leben komplett umzukrempeln, Ritterrüstung wegschmeißen und wirklich ehrliche Verbindungen einzugehen und dich selber kennenzulernen wie du wirklich bist.
Niemand von uns ist immer stark und jede Frau hat, bis zu einem gewissen Alter, die Periode. Viele sind missbraucht worden, manche vergewaltigt, andere wurden geschlagen, manch einer wurde verbal oder emotional missbraucht oder sogar die ganze Palette.
Missbrauch ist auch ein Wort, was ich gar nicht mehr aussprechen möchte aber sonst versteht es keiner.
Als du, ganz offen und authentisch über die Gerichtsverhandlung berichtet hast, dass es, wo wir uns einig sind, noch etwas anderes gibt. Du bist nämlich plötzlich von: "Dieses Monster", vor dem ich unglaubliche Angst habe, denn ich doch niemals freiwillig treffen möchte zu einem kompletten Friedens-verhalten um geschwungen.
Das war der Punkt, wo ich bei deinem Video geweint habe, das ist so eine Weisheit, die du da von dir gegeben hast. Das würde ich gerne einfach hier noch ausführen.
Magst du uns kurz noch von der Phase, wo du den Täter als Monster beschrieben hast erzählen und dann rüber zu dem Zeitpunkt als es um Vergebung ging?
Meiner Meinung nach muss man das sogar noch einen Schritt weiter sehen, und zwar dass wir alle Menschen sind auch der Täter einer solchen Tat.
Mai: Vielen Dank für dein Feedback. Bei mir war die Zeit bis zur Gerichtsverhandlung von Angst und Panikattacken geprägt. Ich hatte Angst vor ihm. Ich hatte keine Ahnung, was passieren wird.
Ehrlich gesagt hatte ich auch bis ich die Vorladung fürs Gericht bekommen habe nicht einmal gewusst, ob überhaupt ein Gerichtsprozess stattfinden wird. Das war sehr unwahrscheinlich.
Das muss man ganz klar sagen: Mein Fall ist kein üblicher Fall. Die Taten lagen 15 bis 20 Jahre zurück. Es war ein ganz klarer Fall von Aussage gegen Aussage. Solche Fälle werden leider sehr oft fallengelassen.
Eva: Er hatte gesagt, er habe es nicht getan?
Mai: Er hat keine Aussage gemacht, er hat das Aussageverweigerungsrecht genutzt.
Ich habe lange die Angst mit mir getragen, dass er einfach so davon kommt, ich dann aber das Beste getan habe, was ich hätte tun können.
Mehr hätte ich, zu der Zeit, wirklich nicht tun können. Ich habe die Anzeige gemacht, dann wurde ich drei Stunden lang vernommen, während die sehr nette aber doch etwas überforderte Kriminal-, Hauptkommissarin mit getippt hat.
Ich musste dann immer wieder zwischendrin Pausen machen, dass die Tipperin hinterherkam, und das war schon sehr krass.
Ich habe dann noch ein zweites Mal, freiwillig ausgesagt, um manche Fragen noch spezifizierter zu beantworten und der Aussage damit noch mehr Gewicht zu geben und die Wahrscheinlichkeit, dass angeklagt wird zu erhöhen.
Eva: Du musstest also mit einer tippenden Frau, die auch mit am Tisch gesessen hat, detailliert über die Vergewaltigung erzählen?
Mai: Ja.
Eva: Bravo. Hallo Deutschland.
Mai: Ja das war sehr krass. Gleichzeitig würde ich aber trotzdem sagen, dass es sich gelohnt hat. Es kann alles Mögliche sein. Bei mir war es beim ersten Fall eine tippende Frau, beim zweiten Mal dann ein Memo-Gerät, sodass wirklich jemand da war mit dem ich gesprochen habe und der mir Fragen gestellt hat.
Tipp an alle die gerade Zuhören und mit einem ähnlichen Gedanken spielen: Holt euch erst einmal Hilfe beim “Weißen Ring” der Opferschutz oder Hilfsorganisationen. Die können euch genau sagen, auf welches Kommissariat ihr gehen müsst.
Den besten Tipp, den ich damals bekommen habe, war: Wenn ich hingehe, zu sagen, dass es sich um einen sexuellen Missbrauch Minderjähriger geht, um Meinen, der viele Jahre zurückliegt und ich mit einer ausgebildeten Kriminalkommissarin sprechen möchte, die zu diesem Thema am besten auch Erfahrung habe.
Der Satz hat sich bei mir fest gebrannt. Das hat dann den Mann hinter der Scheibe dann erst einmal schlucken lassen. Das ist natürlich auch kein übliches Anliegen. Der Typ, der vor mir kam, hatte sein Handy irgendwo verloren.
Irgendwie witzig, wirklich Ironie des Lebens. Ich komme da mit meinem großen Lebensthema an und der Typ vor mir hat sein Handy verloren.
Eva: Alles passiert in unserer Welt. Wie schön, wenn Menschen ausgebildet werden, dass Menschen adäquat reagieren und anders auf jemanden reagieren, der ein Handy verloren hat, als auf jemanden der gerne seine eigene Vergewaltigung Aussagen möchte.
Auch das Handy zu verlieren ist schlimm, aber es ist eben wichtig da bei sich zu sein, sich in solch einer Situation sich öffnen zu können, und da komplett für denjenigen da zu sein.
Während man bei dem verlorenen Handy, sich nicht sonderlich öffnen muss. Aber das man bei einem Fall wie dir, auf macht, reinlässt und wirklich komplett präsent ist.
Dass jemand, wie du siehst, dass man dir glaubt, und man dir das Vertrauen gibt. Ich weiß nicht, wie es bei dir war, aber vielen geht es so das sie sich widersprechen und darauf auch hingewiesen werden, wodurch sie wiederum verunsichert werden.
Sie fragen sich, ob das wirklich passiert ist oder ob sie sich das nur einbilden. Wie du es so schön beschrieben hast, du hast das Thema jahrelang weggepackt. Klar kann man das dann nicht chronologisch einfach alles eins zu eins erzählen, inklusive Gefühle. Das hast du also zweimal geschafft.
Mai: Genau. Um deine Frage weiter zu beantworten. Ich habe lange Angst vor diesem Mann gehabt. Ich habe mir in meinem Kopf die wildesten und verrücktesten Szenen ausgemalt. Habe viele Albträume von ihm gehabt, dass er mich als Lügnerin beschimpft und sagt das, das nicht stimmt.
Albträume wie ich ihm gesagt habe, dass ich zur Polizei gehe und er dann sagt, dass ich das nicht mehr tun müsse, weil er schon da war, und ihnen gesagt habe das gleich eine Lügnerin komme.
Dieses ganz klassische Denken: Er sitzt am längeren Hebel Vorstellung, er ist schneller und egal, was ich mache, ich komme zu spät, ich bin nicht schnell genug.
Gleichzeitig auch ein krasser Faktor war: Er war ein Freund der Familie, Freund meiner Eltern. Er hat Frau und zwei Söhne und mit den Söhnen bin ich aufgewachsen wie Geschwister. Das waren für mich Brüder.
Und ich hatte unheimlich große Angst, was die beiden wohl denken. Ich hatte Angst, dass sich die beiden eines Tages bei mir melden und mich als Lügnerin beschuldigen und das ihr Papa das doch niemals war. Das war für mich lange Grund genug, nicht anzuzeigen.
Ich werde oft gefragt, warum ich so lange mit der Anzeige gewartet habe. Großer Grund war, dass ich falsch verstandenes Verantwortungsgefühl / Victim-blaming betrieben habe. Ich glaube, es gibt keine größeren victim-blamer als die victims selber.
Das Opfer sich selber die schlimmsten Dinge sagt und Vorwürfe macht. Für mich war, auch als ich schon älter war, und verstanden hatte, was da passiert ist, ganz lange der Gedanke das es jetzt ja schon so lange her ist.
Es sei ja jetzt nicht so schlimm und wenn ich jetzt Anzeige erstatte, und es nachher tatsächlich dazu kommen würde, dass er ins Gefängnis muss, dann nehme ich seinen Söhnen, den Vater und seiner Frau, den Mann.
Ich habe es mir nicht so leicht gemacht. Ich habe ihn auch nicht als eine Person außerhalb des Systems gesehen, sondern für mich war er Familienvater. Ich kenne die Familie auch, klassische Familie mit allein Ernährer und die Frau mit einem 450 Euro Job.
Ich habe mir eine gewisse Verantwortung aufgebürdet das, wenn ich schweige die Familie weiterhin Vater und Mann hat, auch wenn kein besonders guten aber besser als keinen.
Bis ich dann irgendwann auch da über den Punkt gekommen bin, wo ich gemerkt habe: Halt, stopp, du nimmst gerade Verantwortung für etwas, wofür du nicht verantwortlich bist.
Ich bin nicht diejenige die seine Familie zerstört, weil ich sage, was er getan hat, sondern er ist derjenige, der vor 20 Jahren den Samen zur Zerstörung seiner Familie und seines Teams gesetzt hat.
Nur, weil ich es ausspreche, bin ich nicht diejenige die es kaputtmacht. Diese Erkenntnis hat sehr lange gedauert bei mir anzukommen.
Eva: Und was betrifft die Themen Scham und Schuld, hattest du solche Gefühle?
Mai: zu hundert Prozent, absoluter Klassiker. Ich hätte doch einfach Nein sagen können, ich hätte doch einfach weglaufen können, oder es meinen Eltern direkt erzählen können. All das hab ich mir vorgeworfen, victim-blaming vom Feinsten.
Wo ich lange für gebraucht habe, um zu verstehen, dass mich da absolut keine Schuld trifft, sondern die Schuld 100% beim Vergewaltiger liegt.
Aber, wenn man das dann bei einem Erwachsenen und einem Kind macht. Wie soll sich denn ein Kind in dieser Machtstruktur überhaupt wehren können? Das hat mich sehr befreit, als ich das verstanden habe.
Mit Scham genau das Gleiche. Meine Therapeutin hatte das schön gesagt. Diesen Typen nennt man Kinderschänder.
Ein Schänder, schändet jemanden, was bedeutet, dass die Person, die geschändet wurde, eine Schande ist, sie aber nicht diejenigen sind, die eine Schande haben, für die sie sich schämen müssen.
Das gab mir Einsicht. Es wird irgendwie alles aufs Opfer projiziert und ich habe mich so lange dafür geschämt. Auch ganz banale Sachen. Mir wurde mein erstes Mal genommen. Im Teenageralter als alle Mädels gackernd im Kreis erzählt haben, wenn sie ihr erstes Mal hatten.
In diesen Situationen habe ich irgendwie versucht, in Anführungsstrichen, normal zu wirken und habe immer wieder die Angst gespürt, dass jemand vielleicht merkt, dass etwas mit mir nicht stimmt, das jemand merkt, dass ich schon mein erstes Mal hatte aber eben ein vollkommen verkorkstes.
Später im Studium, als ich ausgezogen bin, konnte ich das Thema auch nicht angehen, ich bin in eine neue Stadt, neue Kommilitonen und neue Freunde da wollte ich nicht als Opfer dastehen, sondern ein neues Leben aufbauen. Dann ging es in den Beruf und in die Karriere wo es mir auch schwergefallen ist.
Was sollen da denn die Kollegen denken und da kann mich ja keiner mehr ernst nehmen. Das hat mich alles immer daran gehindert, die Scham war sehr lange, sehr präsent.
Da hat mir die Brené Brown in gewisser Weiße, ausgeholfen. Scham ist das, was uns verbindet. Das finde ich spannend, dass ihrer Forschung nach das Schamgefühl eines unserer ältesten Gefühle ist.
Meistens spricht man, wenn man von alten Gefühlen spricht, eher von Angst, Wut, Trauer und Freude, kaum einer spricht von Scham, aber sie sagt, Scham ist ein Überlebensinstinkt, denn wir Menschen sind ohne unsere Gruppe, ohne unseren Stamm nicht überlebensfähig gewesen.
In dem Moment, in dem einer der Menschen etwas getan hat, wofür ihn jemand anderes verurteilen und vielleicht verstoßen konnte, hatte er Todesangst und durch das Schamgefühl versteckte er es lieber, um weiterhin Stammesmitglied zu bleiben. Ich habe wirklich teilweise das Gefühl gehabt Todesangst zu haben. Dass ich sterben muss, wenn jemand dahinter kommt.
Eva: Bei Scham trennen wir uns innerlich von uns selbst. Und diese Trennung, wie du so schön beschrieben hast, macht einsam. Diese Trennung ruft Überlebensmechanismen in einem auf.
Du wurdest die Powerfrau mit der Ritterrüstung, die alles schafft. Es gibt noch viele andere Rollen, in die man gehen kann, aber es ist immer eine Rolle. Bis man zu den Gefühlen steht und diese ertragen kann.
Sag mal, hast du eine Idee, warum du damals nicht Nein gesagt hast? Hast du da für dich schon eine Erklärung gefunden? Warum du es immer wieder über dich ergehen lassen hast und nicht zu deinen Eltern bist oder Hilfe geholt hast?
Mai: Man spricht ja immer vom Fight-or-flight-Mechanismus. Entweder man kämpft oder man flieht. Eigentlich haben wir drei Mechanismen: fight, flight or freeze. Kämpfen, fliehen oder erstarren. Das ist ein ganz normaler Überlebensmechanismus.
Wenn ich es jetzt im Nachhinein betrachte, war es eine lebensgefährliche Situation. Wer weiß was dieser erwachsene Mann mit mir hätte tun können. Er hatte mir gedroht und als Kind glaubt man einem erwachsenen.
Deswegen war für mich, in diesen Situationen klar, dass ich das einfach über mich ergehen lassen muss. An manchen Stellen habe ich auch mutig Nein gesagt, es hat nur nichts genützt, es ist passiert und ich hatte nicht die Kraft dazu.
Das war das eine und das andere war Hierarchie. Einerseits steht ein Erwachsener, prinzipiell, erst einmal über einem Kind. Dazu kam bei mir die Kultur dazu. Ich bin im vietnamesischen Hierarchie Rahmen aufgewachsen.
Er ist auch Vietnamese und im Vietnamesischen sind die Hierarchien noch mal krasser als im Deutschen. Es gibt zum Beispiel kein 'du', es wird sich durchgehend gesiezt und es wird in Level eingeteilt.
Er hat, dadurch das er Generation meiner Eltern ist, die Ansprache Onkel. Seine Söhne waren Brüder beziehungsweise kleiner Brüder, da sie jünger waren. Er war Onkel und dadurch besteht eine unglaublich große Machtdistanz zwischen ihm und mir.
Ganz banal: Man tut, was ein Erwachsener sagt und das ist in der asiatischen Kultur, speziell in der vietnamesischen tief verankert. Das für mich als Kind überhaupt keine Option bestand.
Warum hab ich es niemandem gesagt? Meine Therapeutin nennt das Schweigegebot beziehungsweise Schweigegelübde, was viele Täter einem Opfer auferlegen.
In meinem Fall: Wenn du es jemandem sagst, dann passiert etwas Schlimmes. Du darfst es keinem sagen, sonst kriegst du ärger.
Das waren zwei Sätze, die sich bei mir eingebrannt haben. Für mich als Erwachsener vollkommen leere Drohung. Ein erwachsener Mann, der gemerkt hat das er Scheiße gebaut hat, und versucht ein Kind zu beeinflussen.
Für mich heute vollkommen banal für ein Kind für den ein Erwachsener Gottes gleich ist, nicht hinterschaubar. Ich habe mir Tausende Szenarien vorgestellt die hätten passieren können.
Kinder sind kreativ ohne Ende. Dieses Schweigegelübde saß so tief, dass es nicht über meine Lippen gekommen ist. Auch in der Therapie konnte ich das erste halbe Jahr nicht das Wort Missbrauch in meinem Mund nehmen.
Ein weiteres halbes Jahr hat es gedauert bis ich das Wort Vergewaltigung in meinen Mund nehmen konnte. Es fühlte sich jedes Mal, wenn ich das gesagt habe, so an als würde ich gegen eine Regel verstoßen, als machte ich etwas Verbotenes. Dadurch das ich es jetzt immer wieder und wieder tue, wird es zu etwas Normalen, was es ja ist.
Eva: Ich fände es schön, wenn wir alle über alles reden könnten. Es würde diese Dinge nehmen. Dass man über Scham und Schuldgefühle reden kann für etwas, wo man gar nichts dafür kann.
Es natürlich auch Trauma Heilung, wenn man lernt, darüber zu reden und sieht das man nicht der Einzige ist, es nicht die eigene Schuld ist, sondern die der Erwachsenen.
Auch die ganzen Selbstvorwürfe, dieser Selbsthass und die Selbstablehnung würde wegfallen, weil man merkt, dass man nichts hätte tun können.
Was auch dazukommt, dass es öfter war und wann man etwas ausspricht, man direkt dafür verantwortlich gemacht wird.
Wenn man es erst nach dem fünften Mal sagt, dann fragen sich die Leute, warum man es nicht gleich gesagt hat, oder es wird einem noch vorgeworfen das es einem doch gefallen hat.
Das ist sehr tricky. Es ist nicht so einfach. Das Thema Verwirrung haben wir noch gar nicht angesprochen: Wenn man mit acht das erste Mal Sex hat, das verwirrt. Man hatte das vorher nicht, man ist auch nicht sonderlich bis gar nicht aufgeklärt.
Man hat solche Gefühle noch nie gehabt. Man weiß als kleines Kind noch nicht mal, ob das jetzt Sex ist. Es verwirrt total. Was sind das für Gefühle, was macht der mit meinem Körper und vor allem was macht mein Körper jetzt auf einmal.
Absolut schockierend für das Mädchen, weil auch für sie Erregung da sein kann. Und da braucht man Unterstützung von jemand anderem um all das wieder aufzudröseln und zu erkennen, was eigentlich passiert ist und dass er das nicht darf, da wir in Deutschland sind und das, Gott sei Dank nicht erlaubt ist.
Er hat eine Straftat begangen und deshalb auch der Schritt zur Anzeige zu gehen. Aber da hat sich dann ja bei Dir noch alles gedreht.
Kommen wir vielleicht am Schluss des Interviews noch kurz zur Polyamorie, da das viele brennend interessiert. Wie hat es sich für Dich alles gedreht und was hast Du dann in dem Moment für ihn empfunden und was hast Du dann gemacht? Was ist da passiert?
Mai: Ich möchte nochmal kurz auf eine Sache eingehen, die Du gerade erwähnt hast und die mir auf der Zunge brennt. Nämlich der Moment, indem ich erkannt habe, dass ich nicht alleine bin und das ganz vielen passiert.
Das hat bei mir so viel verändert, weil bis ich meine Rüstung geöffnet habe, und gesagt habe das ich sexuell missbraucht worden bin, habe ich in meinen 24 Lebensjahren keinen Menschen persönlich kennengelernt, dem das passiert ist.
Erst als ich angefangen habe darüber zu sprechen, habe ich ein paar Monate danach zum allerersten Mal einen Menschen getroffen, dem das auch passiert ist. Den Moment werde ich nie vergessen. Es ist bis heute eine sehr gute Freundin von mir und alleine das wir beide diese Erfahrung hatten, waren wir direkt so eng.
Für sie war auch ich die Erste, die sie in echt getroffen hat. Und plötzlich waren wir zu zweit, die sich über sexuellen Missbrauch austauschen konnten. Über posttraumatische Belastungsstörung. Welche Störungen wir davon trugen, welche Dinge uns heute noch im Alltag belasten.
Das hat einen Stein ins Rollen gebracht. Das war mein erster “MeToo” Moment. Mein erster “Ich auch”-Moment, in dem mir jemand gesagt hat, das es ihm auch passiert ist. Seitdem, ich habe nicht nachgezählt, sind es, mit Sicherheit mittlerweile über hundert Frauen, die sich bei mir gemeldet haben, denen das auch passiert ist.
Es sind enge Freundinnen, Bekannte, es sind Leute aus dem Internet, verhältnismäßig viele Leute aus dem Internet, die sich teilweise zum allerersten Mal Öffnen und davor noch nie jemandem etwas erzählt haben.
Aber das meine Geschichte sie so sehr berührt hat, dass sie den Impuls haben, mir zu schreiben ist sehr rührend. Gerade letzte Woche habe ich mich mit einem Bekannten, weit entfernter Bekannter, mit dem ich lange keinen Kontakt hatte, getroffen.
Er hat mir klar und deutlich seinen Missbrauch, den er erlebt hat, erzählt. Über 100 Frauen und zwei Männer, die sich bei mir gemeldet haben. Er war der zweite Mann. Ich habe einen großen Respekt vor ihm, da der Schritt für einen Mann noch so viel größer ist, mit dem heutzutage toxischen Männlichkeitsbild.
Er ist jetzt so weit, dass er nächste Woche anzeigen geht. Gestern hab ich die Nachricht erhalten und ich hatte Gänsehaut.
Eva: Was du alles bewirkst! Jedes zweite, dritte Mädchen und jeder vierte, fünfte Junge ist missbraucht worden, wenn wir alles mit Reinzählen. Ganz, ganz vielen von uns ist das schon passiert. Manchen als Baby, manchen als kleines Mädchen und vielen auch so wie dir.
Ihr könnt auch der Mai schreiben, sie schreibt auch ein Buch, welches auch ganz sicher vielen Frauen und Männern helfen wird.
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Hi, ich bin Mai 😊 Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht Opfern sexuellen Missbrauchs zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Auch wenn eure Scham und Angst etwas anderes erzählen: Das ist nicht wahr! Und es kommt noch besser: Der richtige schöne Teil eures Lebens liegt noch vor euch! Ich habe es geschafft, aus dem schlimmsten Erlebnis meines Lebens, eine enorme Kraft zu ziehen & mein Leben nach meinen Ideen neu zu gestalten - also kannst du das auch! Deine Mai 💛
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