Sexuell missbraucht als Mann 🤯 - Tims #metoo-Story (Teil 2/2)

Sexuell missbraucht als Mann – Tims #metoo-Story (Teil 2/2)

Aug 19
Es ist vorbei - sexueller Missbrauch verarbeiten

Sexuell missbraucht als Mann. Dass ein sexueller Missbrauch nur Frauen betrifft, ist ein großer Irrtum. In diesem Interview ist Tim zu Gast, der Name ist ein Pseudonym, da er anonym bleiben möchte.

Dies ist der zweite Teil des Interviews. Wenn du den ersten Teil noch nicht gelesen hast und dich interessiert wie Tim offen und ehrlich über den sexuellen Missbrauch spricht, den er erlebt hat, dann lies den gerne zuerst. Tim hatte über meinen Podcast von meinem Gerichtsverfahren gehört und sich dadurch entschieden, auch vor Gericht zu gehen.

Er ist im Moment am Anfang des Prozesses und wir dürfen ihn dabei begleiten. Er erzählt im ersten Teil davon, wie er direkt nach der Missbrauch mit dem Thema umgegangen ist und von seinen ersten Schritten, dem Verlauf seiner Strafanzeige.

In diesem Teil erzählt Tim von seinem Umgang mit der Einsamkeit, der Verdrängung und wieso er so lange geschwiegen hat. Dabei erzählen Tim und ich von Schlüsselmomenten, die unser Schweigen gebrochen haben.

Wie überbrücke ich das Alleinsein? Sexuell missbraucht als Mann

Einsamkeit - sexueller Missbrauch als Junge

Einsamkeit - sexuell missbraucht als Mann

Mai: Meine Frage an dich, wie war das für dich? War für dich Einsamkeit auch ein Thema?

Tim: Gute Frage. Irgendwo ja, es ist schon schwierig. Weil man es nicht erzählt, wenn jemand einen fragt, wie dein Tag war. Es fehlt der richtige Ansprechpartner.

Ich hatte lustigerweise das Gefühl, das immer, wenn ich darüber gesprochen habe, sich mein Gegenüber auch sehr geöffnet hat. Ganz oft auch auf einmal tiefe Ängste und Sorgen preisgab.

Du öffnest dich und andere Menschen öffnen sich dann auch. Hochinteressante Lebensweisheit. Alleinsein war lange Zeit bei mir ein Gefühl von Wut. Gerade dieses “Wieso ich?” Ich habe mich geärgert.

Ich wusste nicht was tun, und ich konnte nicht laut losschreien. Wenn dir ein Teller Spaghetti herunterfällt, (Mai lacht) dann ist das zwar ärgerlich, aber man weiß, was zu tun ist.

Beim Spaghettiteller weiß ich: Schippe, Besen, Pizza bestellen. Aber in dem Moment hast du nicht die Möglichkeit jemandem nach Rat zu fragen und darüber zu sprechen. Man ist alleine damit.

Wenn man darüber redet, sind die Gesprächspartner oft der Partner, oder selbst wenn es ein guter Freund ist - sind wir mal ehrlich - in der Situation ist jeder erst mal überfordert.

Ich hatte Glück, dass ich eine Partnerin hatte, die auch Missbrauch erlebt hat. Sie konnte mir dann eben sagen, dass sie in eine Therapie gegangen ist, und kannte Ansprechpartner. Die Therapie war dann auch mein erster Schritt. Rückblickend betrachtend hatte ich saumäßig Glück gehabt.

Wenn man mal weiß, wen man ansprechen kann, sieht man, wie viele man ansprechen kann. Damit kann man die Einsamkeit vorbeugen, weil man einfach mal jemanden hat der weiß, was man darauf antworten kann.

Ein Freund sagt: “Scheiße.” Aber vielleicht möchte man auch einfach mal hören, dass es vorbei ist.

Da gibt es unglaublich viele Anlaufstellen, sei es jetzt der “Weiße Ring”, die Caritas, die Diakonie. Alle haben Anlaufstellen, alle zumindest Berater die einen weitervermitteln können. Das kann ganz oft der erste Aufschlag sein, zu wissen, mit jemandem reden zu können.

Es gibt einen vertraulichen Kreis und von dort aus kann man besser planen, wie die Reise am sinnvollsten weitergeht. Bei mir war es damals Therapie. Dann kam das Angebot, wenn ich an einer Studie teilnehme, dann bekomme ich einen schnellen Therapieplatz.

Da kam es zu ein paar echt glücklichen Umständen. All das war für mich am Anfang auch sehr überwältigend, denn auf einmal redet man und man geht es an. Anstatt den Ball gedrückt unter Wasser zu halten, versucht man ihn hochzuholen.

Mai: Schönes Bild.

Tim: Ab dem Moment fühlt man sich nicht mehr so alleine. Gerade diese Anlaufstellen sind nicht so krass, wie man sich das immer ausmalt. “Ich gehe zum Therapeuten.” Es nichts Negatives, jemanden zu haben, der zumindest mal eine Anlaufstelle für Tipps und Tricks bietet.

Es war nur eine kurze Zeit, in der ich dort war, aber es war sehr angenehm, weil es mir diesen Einstieg ermöglicht hat, einen Rahmen zu schaffen.

Mai: War die Therapie der erste Schritt für dich um Kraft zu tanken für die Anzeige? Wurdest du da aufgefangen?

Tim: Ja genau. Also am Anfang ging es erstmal darum, wie ich überhaupt weitermachen möchte. Ich wusste ja nichts und habe mir dann auch gedacht, dass es vielleicht tatsächlich sinnvoll wäre, es anzugehen, weil man merkt, dass man etwas mit sich herumschleppt.

Der Alkoholkonsum wird auch nicht weniger und man merkt, dass der Alkoholkonsum weniger Spaß macht, es aber trotzdem nicht weniger wird.

Man merkt, dass man nicht in der Mitte ist. Es war einfach mein erster Anlaufpunkt. Ich gehe es an, da ist jetzt jemand, der mir auch einfach mal die Option zeigt: Was kann ich machen? Das auch mal auszusprechen, ist schon eine große Hürde.

Auszusprechen, was passiert ist. Man muss in dem Moment demjenigen ja vieles erklären. Man könnte auch sagen, dass einem was Schlechtes passiert ist und man Hilfe braucht.

Aber desto genauer man sie daran teilhaben lässt, desto besser können sie einem helfen. Bei mir war es eine recht junge Dame, die ich als furchtbar positiven Menschen in Erinnerung behalten habe.

Die Kernaussage: Das Alleinsein ist scheiße, wahrscheinlich eines der blödesten Sachen an dem ganzen Thema. Gerade in der Situation fühlt man sich alleingelassen und fragt sich, was man hier eigentlich macht. Überwältigende Gefühle.

Wichtig ist, dass man versucht, irgendwann aus dem Alleinsein herauszukommen. Dass man es einfach aktiver angeht und versucht einen Ausweg zu schaffen, mal eine Tür zu öffnen.

Mai: Das ist cool.

Symptome - Verdrängung der Gefühle, sexuell missbraucht als Mann 

Als Junge missbraucht - Einsamkeit, Schamgefuehle

Sexuell missbraucht als Mann - Einsamkeit, Schamgefühle

Mai: Du hast jetzt schon das zweite Mal von Alkohol erzählt, deswegen wollte ich da noch einmal nachfragen. Wie hat sich bei dir das Verdrängen gezeigt? Bei mir zum Beispiel ganz banal: Ich habe mich in Arbeit ertränkt.

Viele denken, wenn man zu viel arbeitet, bekommt man einen Burnout. Bullshit. 99,99 Prozent der Burnouts passieren nicht, weil man zu viel arbeitet, sondern weil hinter der Arbeit noch etwas anderes steckt. Das Arbeiten ist eine Verdrängungsstrategie.

Ich bin volle Kanne in meine Arbeit und im Sport versunken. Ich habe fünf, sechs Tage die Woche Sport gemacht. Habe Ernährung zu meiner Religion gemacht. Ich habe total darauf geachtet, was ich esse, und war zusätzlich ehrenamtlich aktiv.

Ich hab so viele Dinge gemacht, dass ich ja nicht eine Sekunde still sitzen musste, um mich mit den negativen Gedanken zu beschäftigen.

Ich habe auch viel gefeiert, aber das hat sich dann zum Glück nach dem zweiten Semester gelegt. Deswegen ist es für mich so interessant, was deine Ausweichstrategien waren.

Tim: Ich glaube, bei mir war das immer Gesellschaft zu suchen und zu haben. Unterwegs zu sein, was machen. Bin zwar immer noch ein sehr aktiver Mensch aber, wenn man unterwegs ist, Party macht, sich mit Freunden trifft, muss man sich nicht mit sich selbst beschäftigen.

Man eiert so ein bisschen herum. Was auch Spaß gemacht hat und am Ende mir auch viel geholfen hat, um einfach mal auszusteigen. Je älter ich wurde, desto weniger hat es als Ausweichstrategie gepasst, weil sich das Umfeld verändert hat, die Dinge sich verändert haben.

Es fängt doch an, irgendwann zu wackeln. Man merkt, man trinkt nur noch, anstatt in Feierlaune zu sein. Man ist dann doch irgendwann genervt und spätestens dann ist eine ungute Situation, wenn man auf Alkohol aggressiv wird ungünstig. Primär gesehen habe ich dann ein Problem, weil ich dann aggressiv bin und das dann auch noch auf meine Umwelt ablade.

Spätestens dann, sollte ich mir Gedanken machen. Nicht, dass ich dann auf die Straße bin und sinnlos Leute umgehauen habe, aber ich habe gemerkt, dass das Ganze nicht mehr so Spaß gemacht hat wie früher, als das noch Ablenkung war. Es war irgendwann sinnlos und nur panisches Unterdrücken.

Mai: Panisch trifft es schon ganz gut.

Warum Tim so lange sein Schweigen gehalten hat - sexuell missbraucht als Mann

Warum so lange im Schweigen

Sexuell missbraucht als Mann - Warum ich so lange im Schweigen blieb

Mai: Eine echt fiese Frage, ich mag sie dir aber trotzdem stellen: Warum hast du so lange geschwiegen?

Tim: Ich unterteile es gerne in zwei Schweigen. Schweigen bis zur Therapie und das Schweigen bis zur Anzeige. Schweigen bis zur Therapie hat ganz viel damit zu tun, dass ich selbst erst einmal einordnen musste und klarkommen musste, was damals passiert ist.

Es ist etwas passiert, was nicht der Normalfall ist? Was nicht sein sollte? Klar gibt es immer Leute, denen es schlechter geht, nichtsdestotrotz, wenn es außerhalb des Normalfalles ist, ist alles erst mal scheiße. Sich dann zu streiten, wer es am schlimmsten Abbekommen hat, kann man machen, ist aber nicht zielführend. (Mai grinst.)

Zielführender ist dann eher sich zu überlegen, wie man das jetzt angeht. In dem ersten Schweige-Zeitraum war viel Scham im Spiel, ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.

Dass etwas nicht stimmt, war mir klar, aber ich wusste nicht, was ich machen kann. Erst durch die Therapie habe ich gelernt, damit umzugehen. Ich habe gelernt, auch mal darüber zu reden und es zu artikulieren.

Es war danach immer noch nicht einfach und habe aber damals nach der Therapie, der zweite Teil des Schweigens, wirklich pro und contra Listen erstellt. Anzeige oder keine Anzeige.

Wo ich damals zu dem Entschluss kam, dass am Ende des Tages Punkte wie: “Ich habe Angst darüber mit meinen Eltern zu reden. Ich habe Angst, in der Öffentlichkeit zu landen.” Für mich präsenter, beängstigender waren, als andere Punkte.

Das ist der Nachteil, man muss erst einmal mit sich selbst klarkommen und ich war dazu oft nicht in der Lage. Es war scheiße, dass ich nicht wusste, ob es noch andere Opfer gab, oder es vielleicht immer noch passiert. Es hilft mir aber auch nichts, wenn ich ein Selbstmordkommando anfange, um Hauptsache irgendwo hineinzurennen.

Ich habe dann zwar die Welt gerettet, aber mich selbst zugrunde gerichtet. Klingt total ehrenvoll, aber wahrscheinlich geht es am Ende mehr in die Hose, als es vielleicht einen Nutzen bringt. Ich habe dann auch für mich gemerkt, dass ich damit abschließen mag und nicht alles nochmal aufholen möchte.

Ich komme damit jetzt klar, ich akzeptiere, was passiert ist, ich kann damit leben. Dann kam irgendwann der Punkt, gerade wo ich über deine Gerichtsverhandlung gelesen habe, wo für mich präsenter wurde, dass es das nicht gewesen sein kann.

Es kann nicht sein, dass ich mir mein Leben lang Gedanken darüber mache und der andere (also der Täter) sich vielleicht gar keine Gedanken darüber macht. Ich hatte das Verlangen dazu, demjenigen das Feedback zu geben: “Du hast da Scheiße gebaut.” Vielleicht versteht er das gar nicht, was er da wirklich gemacht hat. Es soll keine Rechtfertigung sein, aber es ist wichtig zurückzuspiegeln: Was du machst, ist scheiße.

Diese Gedanken wurden dann präsenter als: “Ich möchte jetzt meinen Eltern nicht antun, darüber reden zu müssen.” Die Gedanken: “Was ist, wenn es immer noch passiert? Was ist, wenn es anderen nun passiert? Gab es vielleicht schon Leute vor mir?” All diese Gedanken wurden immer präsenter.

Da kommt die Tatsache auf, hätten die ihr Schweigen gebrochen, wäre es nie so weit gekommen. Auch wenn es jetzt zu spät ist für jemandem ist, dem das schon passiert ist, ist es vielleicht für jemanden anderen früh genug und hilft dann ja trotzdem noch.

Mai: Das war für mich tatsächlich damals auch ein großer Grund, wo ich gesagt habe, ich tue es nicht nur für mich, sondern auch für andere. Ich weiß nicht, ob ich die Erste bin, die anzeigt oder die Zehnte. Und wenn ich die Erste bin, dann ist es so. Wenn es im Sande verläuft, dann ist es so, aber vielleicht mache ich der Zweiten oder Dritten den Weg leichter.

Tim: Ja richtig, das weiß man ja nie. In der Staatsanwaltschaft, bei der Polizei sitzen auch nur Menschen. Wenn sie die vierte Anzeige für die gleiche Person kriegen, dann ist es nicht mehr Aussage gegen Aussage, sondern auf einmal sind es vier Aussagen gegen eine.

Und wenn es nur zwei Aussagen gegen eine ist, hilft das schon viel. Ich kann nachvollziehen, wenn Leute sagen, dass sie noch nicht bereit sind, aber ich für meinen Teil glaube, es tut mir gerade sehr gut, dass ich jetzt bereit bin, und den Schritt gegangen bin.

Es macht mir gerade ein gutes Gefühl.

Mai: Du wirkst auch total zufrieden, total stark und klar.

Schlüsselmomente von Mai und Tim, die das Schweigen brachen

Heilung - meine Schlüsselmomente

Heilung - meine Schlüsselmomente nach sexuell missbraucht als Mann

Mai: Gab es für dich ein Schlüsselmoment, auf den du das zurückverfolgen kannst? Wo du sagst: “Da habe ich entschlossen anzuzeigen.” ?

Für mich ist es total klar. Ich bin an einem Montag Morgen schweißgebadet aufgewacht, hatte einen Albtraum. Ich hatte das Gesicht des Täters in Nahaufnahme vor meinem Gesicht.

Mein damaliger Freund lag noch neben mir und ich bin dann mit meinem Handy ins Badezimmer und saß auf dem Klo. Das Bild ist ganz klar in Erinnerung geblieben. Ich saß da und habe mir gesagt, dass mein Leben so nicht weiterlaufen kann.

Ich bin nicht das Opfer. Ich sollte nicht diejenige sein, die schweißgebadet aufwacht und Schiss hat, sondern der Täter. Und da habe ich den "Weißen Ring" gegoogelt und denen sofort eine E-Mail geschrieben. Das war mein Schlüsselmoment.

Tim: Ich glaube, es ist furchtbar wichtig, diesen Moment zu begreifen. In Amerika sagt man auch “Victim” als Opfer, was man aber auch sagt, ist der “Surviver”, der Überlebende. Wenn man das aus dem Kontext betrachtet, man ist nicht das Opfer, sondern ich habe da ganz schöne Scheiße überstanden. Ich habe das überlebt und überstanden.

Du bist dann nicht mehr der Schwache in der Ecke, der sich nicht wehren konnte, sondern derjenige der das durchgestanden hat. Der eine echte Mutprobe überlebt hat. Es ist, um Gottes willen nicht mit den Eigenschaften einer Mutprobe zu vergleichen, aber man hat da was geschafft.

Gerade wenn man danach sagt: “Ich will nicht mit gesenktem Haupt herausgehen, ich will mein Leben, leben.” Was auch mein gutes Recht ist. Ich habe ja nichts falsch gemacht.

Zu der Frage mit dem Schlüsselmoment. “Es ist vorbei! ”. Hochinteressanter Moment für mich, ein total schöner Moment, wo jemand zu mir sagt: “Es ist vorbei! ”. Da machte es klick, Jahre später.

In dem Moment ist eine Riesenlast von mir abgefallen. Diese Einsicht: “Stimmt, es ist rum.” Es ist nicht mehr, es wird nicht mehr passieren.

Das war ein toller Schlüsselmoment. Dann gab es immer mal wieder so kleine Momente. Immer mal wieder, wenn man sich selbst ein bisschen relaxter erlebt.

Ein anderer Schlüsselmoment war, wo er mir vor nicht allzu langer Zeit über den Weg gelaufen ist. Da kam mir der Gedanke, dass er jetzt wahrscheinlich noch einen netten Abend vor sich hat, ohne zu wissen, was er mir angetan hat, und das kann es doch nicht sein!

Seit dem waren die ganzen Themen auch wieder sehr präsent, wie zum Beispiel die Frage, ob ich ihn anzeigen soll, oder nicht. 

Ich habe mich dann schlau gemacht und mir Informationen gesammelt, ob eine Anzeige wirklich so schlimm ist, wie ich es mir vorstelle, oder ob es vielleicht ganz anders verläuft.

Vielleicht geht es gar nicht nach hinten los. Wer weiß, ob eine Anzeige wirklich was bringt. Vielleicht ist das mein Beitrag zu einer besseren Welt. Ich hoffe es.

Kontakt und Umgang mit dem Täter

metoo-Story eines Mannes - jedem Opfer eine Stimme geben

#metoo-Story eines Mannes - jedem Opfer eine Stimme geben

Mai: Ich finde es absolut bemerkenswert, unglaublich mutig und stark von dir, wie du es erzählst, dass du ihn auf der Straße triffst. Es ist einfach ein komplett anderer Umgang, als ich ihn gewählt habe. Nachdem ich mich beim letzten Zusammentreffen, das erste Mal gewehrt habe, hat er mich nie wieder angefasst.

Einfach, weil ich ihm nie die Möglichkeit gegeben habe. Sobald er für einen Besuch ankündigt wurde, war ich weg. Ich habe meine sieben Sachen gepackt und bin zu einer Freundin oder zu meinem Freund gegangen. Egal was, ich war einfach weg, weil ich es nicht ausgehalten und ertragen habe, ihn zu sehen.

Bis zum Gerichtsprozess habe ich das auch durchgezogen. Ich wollte ihn nicht sehen. Sein Anwalt hat auch meine Anwältin kontaktiert und mich zu einem Täter-Opfer-Gespräch gebeten, wo wir uns zu viert an einen Tisch gesetzt hätten.

Das wollte ich nicht. “Was soll ich mit diesem Mann an einem Tisch sitzen? Ich will diesen Mann nicht sehen, nicht hören, nicht riechen.” Er hat auch Geld geboten. Ich wollte nichts, ich wollte nur, das dieser Gerichtsprozess stattfindet.

Das war’s. Deswegen finde ich es unglaublich krass und auch inspirierend, dass du da ganz anders mit umgehst.

Tim: Meine Situation war ein bisschen anders. Ich kam nie dazu, mich wirklich zu wehren. Bei mir lief das über längere Zeit hinweg und ist irgendwann ausgelaufen. Man hat so die Freunde, mit denen man sich trifft und irgendwann wird es immer weniger bis man sich gar nicht mehr sieht. So war das auch.

Heute kommt mir das zugute, wenn ich heute die Anzeige mache, dann kommt das überraschend. Einfach dadurch, dass sich die Freundschaft so abgeebbt ist und es keinen Schnitt gab. Ich habe gelernt, damit umzugehen.

Am Ende ist auch er ein Mensch. Mir bringt es nichts, ihn zu hassen. Klar ist Wut eine starke Emotion aber ich möchte nicht wütend sein. Ich möchte ein gutes Leben führen und ich finde, dass es eine Scheiß Situation ist, klar. Ich kann daran aber nichts mehr ändern. Er auch nicht.

Wenn ich jetzt den Rest meines Lebens wütend bin, dann macht das mein Leben kaputt. Wut hat man immer selbst, sei es im Straßenverkehr oder dem Täter gegenüber. Derjenige, der mir die Vorfahrt nimmt, hat nichts davon, dass ich wütend bin.

Am Ende möchte ich gerne ausgeglichen sein, ich mag mit mir im Reinen sein. Deswegen bringt es mir nichts, wütend zu sein und den Täter kalt machen zu wollen. Bringt mir alles nichts.

Es ist jetzt nicht so, dass ich zweimal die Woche einen Kaffee mit ihm trinken möchte. Aber mir tut es gut, dass ich diesen Hass, diese Wut losgeworden bin. Ich habe mein Bestes gegeben das Ganze anzugehen, sowohl mit mir selbst, als auch jetzt über die Anzeige nach außen, und damit kann ich aktuell sehr gut leben.

Alles andere macht es auch nicht mehr ungeschehen. Es ist passiert. Jetzt muss ich aus der Situation das Beste machen. Auge um Auge bringt mich nicht weiter. Ich möchte nicht genauso Dinge falsch machen, wie er es falsch gemacht hat.

Vielleicht auch mit dem guten Gefühl am Ende dazustehen und zu sagen: “Ich habe es nicht so gelöst wie du. Ich habe mein Problem erkannt. In dem Fall, dass ich wütend bin und habe es aufgearbeitet. Er hätte sein Problem auch erkennen können. Er wird auch verstanden haben, dass er das vielleicht hätte nicht tun sollen, oder dass es nicht gut ist.

Ich glaube, mir gehts besser, wenn ich mit mir damit im Reinen bin, als wenn ich da mit Hass und Wut verzerrt hinterherlaufe. Das macht die Welt nicht schöner.

Tims Umgang mit Vergebung, sexuell Missbraucht als Mann

Vergebung - sexuell missbraucht als Mann

Vergebung - sexuell missbraucht als Mann

Mai: Würdest du sagen, dass du ihm vergeben hast?

Tim: Warten wir ab, wie die Anzeige läuft. Schwierig. Es ist sehr emotional für mich. Er war ein Ansprechpartner für mich als Kind. Etwas Positives und gleichzeitig sehr viel Negatives, was natürlich dieses gewollte Dilemma in der Situation ist, dass man eben schweigt.

Ich glaube, ich bin noch nicht an dem Punkt, wo ich sagen würde, dass ich ihm vergeben habe. Aber ich bin ihm nicht böse. Es ist scheiße, was er gemacht hat, ja. Es hätte in seiner Situation andere Optionen gegeben.

Ich würde sagen, ich bin ihm nicht böse. Ich wäre gerne so weit, dass ich ihm vergeben und vergessen habe, aber es geht nicht. Damit muss er irgendwann mehr leben als ich. Ich komme damit klar, dass ich Opfer sexueller Missbrauch als Mann geworden bin. Kommt er damit klar, wenn es allen bekannt ist?

Wenn er sich damit beschäftigen muss, was er angerichtet hat. Es bringt ihm auch nichts, wenn er sich total verrückt macht und darin untergeht.

Zum Thema andere Anlaufstellen. Er hätte die Option gehabt anonyme Selbsthilfegruppen aufzusuchen, um es gar nicht so weit kommen zu lassen.

Vielleicht, wenn wir beide noch mal reden. Vielleicht bin ich dann schlauer und kann sagen: “Ich kann vergeben.” Jetzt ist das noch nicht der Fall, aber man muss ja auch noch eine Entwicklungsstufe haben.

Mai (lachend, berührt): Luft nach oben. Ich danke dir Tim für deine unglaubliche Ehrlichkeit, Offenheit, Authentizität, dass du da so locker flockig und auch unglaublich sympathisch davon erzählt hast.

Hast du noch ein paar Abschlussworte? Tipps und kluge Worte für Menschen, die sich das ganze Interview durchgelesen haben?

Tim: Schön, wer so weit gelesen hat. Ich glaube eine wichtige Message, die ich auch aus unserem Gespräch mitnehme, ist, dass man nicht alles sinnlos in sich reinfressen sollte, und das man selbst schuld wäre.

Sondern manchmal muss man auch den steinigen Weg gehen, damit es am Ende besser wird. Wenn ich immer nur versuche, dem ganzen aus dem Weg zu gehen, dann lande ich vielleicht an Orten und Plätzen, an die ich gar nicht gehen wollte.

Ich denke, man sollte sich den Mut nehmen es anzugehen und es nicht einfach sein lassen. Am Ende bringt es nichts, zu hassen und wütend zu sein. Das gehört dazu, es ist Teil des Prozesses aber ich glaube, so wie ich mich heute fühle: Sehr abgeklärt mit der Situation, ist für mich selbst ein sehr erstrebenswerter Zustand.

Ich kann mir vorstellen, dass es auch für viele andere ein sehr erstrebenswerter Zustand wäre. Mit der Sache abgeklärt zu sein. Das Wissen mit sich selbst im Reinen zu sein. Schauen wir mal, wie lange das anhält, ich bin aber optimistisch, dass es besser wird.

Mai: Ich bin da auch sehr optimistisch. Allein von unserem letzten Treffen bis jetzt hat sich so viel bei dir getan. Auch wenn du anonym bist, bekennst du dich mit deiner Geschichte. Du bist ganz offensichtlich ein Mann. Du brichst eine Lanze, du brichst einen Damm.

Du gehst diesen Schritt nicht nur für diejenigen, die vielleicht von dem gleichen Täter, wie du sexuell missbraucht als Mann wurden, sondern auch für alle anderen Opfer da draußen. Du gehst einen großen #metoo-Schritt.

Du gehst diesen Schritt jetzt und andere können dir folgen. Vielleicht folgen Sie dir ein paar Monate oder ein paar Jahre später. Du gehst diesen Schritt und du machst ganz vielen anderen Opfern Mut da draußen und meiner Meinung nach, ganz besonders den Männern.

Genau in dieser Situation, von der du am Anfang erzählt hast, dass Arbeitskolleginnen darüber nachdenken und meinen das Männer/Jungen nicht sexuell missbraucht werden, kannst du entgegenbeugen.

Ich glaube, gerade als Mann ist es eine noch größere Hürde anzuzeigen und zu sagen: “Mir ist das passiert.”, weil die Angst vor dem Verlust der Männlichkeit besteht. “Will mich meine Partnerin noch, wenn sie weiß, dass ich mal missbraucht worden bin? Bin ich dann noch ein echter Mann?

Was auch immer das bedeuten mag. Deswegen glaube ich, du hast hier allein, dass du dieses Interview mit mir gemacht hast die Welt ein riesengroßes Stück besser gemacht.

Tim: Danke, freut mich.

Mai: Danke lieber Tim. Danke an alle Leser*innen die bis hierher gekommen sind.

Das war der zweite Teil des Interviews mit Tim. Wenn du den ersten Teil noch nicht gelesen hast und dich interessiert, wie Tim offen und ehrlich über den Ablauf seiner Geschichte spricht: "sexuell missbraucht als Mann", dann lies dort gerne weiter. Tim hatte über meinen Podcast von meinen Gerichtsverfahren gehört und sich dadurch entschieden, auch vor Gericht zu gehen.

Bis bald! Deine Mai

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About the Author

Hi, ich bin Mai 😊 Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht Opfern sexuellen Missbrauchs zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Auch wenn eure Scham und Angst etwas anderes erzählen: Das ist nicht wahr! Und es kommt noch besser: Der richtige schöne Teil eures Lebens liegt noch vor euch! Ich habe es geschafft, aus dem schlimmsten Erlebnis meines Lebens, eine enorme Kraft zu ziehen & mein Leben nach meinen Ideen neu zu gestalten - also kannst du das auch! Deine Mai 💛

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