Heute möchte ich über ein grundsätzliches Thema sprechen, nämlich der Begriff 'Opfer'. Warum ich zum Beispiel meinen Podcast mit 'Für Opfer, betroffene und interessierte' betitle. Ich habe mir wirklich sehr lange Gedanken darüber gemacht, was der Untertitel sein soll und wie ich mit dem Wort Opfer umgehe.
Der Begriff selber ist sehr umstritten und ich mag euch einfach eine Bandbreite aufzeigen. Welche Für- und Gegenargumente es zu dem Begriff gibt und warum ich mich am Ende dazu entschieden habe den Begriff ganz bewusst zu benutzen.
Angefangen hat die ganze Diskussion, als ich vor gut vier Wochen drei Beispiel Podcast-Cover-Bilder von meiner Designerin hochgeladen und nach Meinung gebeten habe. Der Titel war damals noch ein bisschen anders, aber der Begriff Opfer war enthalten. Über alle Plattformen hinweg habe ich über 150 Rückmeldungen bekommen, was megacool war.
Viel Feedback wurde daraus auch umgesetzt. Feedback ist ein Geschenk. Man muss nicht jedes Feedback umsetzen, aber man darf es annehmen oder auch beschließen es nicht anzunehmen. Gerade der Begriff 'Opfer' hat spannenderweise viele Leute zu Diskussionen angeregt.
Ich stereotypiere das um es einfacher zu machen und es von Einzelpersonen wegzubringen. Es waren hauptsächlich Menschen, die eher spiritueller sind, die ein großes Problem mit dem Begriff Opfer hatten. Da waren wirklich mehrere, die gesagt haben das der Begriff negative Energie mit sich bringt und die Menschen keine Opfer sein wollen.
Ich weiß nicht, ob sie über sich selber gesprochen haben oder potenziell andere. Im Endeffekt kam dadurch raus das 'Opfer' ein schlechtes Wort sei und das man kein Opfer sein will. Das hat mich zum Nachdenken angeregt. Wobei ich noch mal in mich gegangen bin und dadurch dieser Artikel entstanden ist.
Warum habe ich den Begriff Opfer gewählt? Möchte ich das? War das eine bewusste oder unbewusste Entscheidung? Dann bin ich noch mal in meine eigene Reise zurückgegangen.
Wie ich mit dem Begriff 'Opfer' begonnen habe. Tatsächlich habe ich den Großteil meines Lebens mit dem Begriff 'Opfer' sehr schwergetan. Ich hatte Angst vor dem Stigma in meiner Jugend und Kindheit, da war 'Opfer' eine Beleidigung.
Achtlos wird mit dem Wort umgegangen und als Beleidigung benutzt. Und ich wollte natürlich nie ein Opfer sein. Das hat überhaupt nicht meinem Selbstbild entsprochen. Es gibt so ein Stereotyp von einem Opfer, ein Opfer ist hilflos, wehrlos, klein, schmächtig und sonst etwas.
Es gibt einfach dieses Bild davon und es hat alles gar nie zu mir gepasst. Ich war die große, starke Schwester, die älteste Tochter. Ich war, obwohl ich im Restaurant mitgearbeitet habe, meinen Schwestern bei den Hausaufgaben geholfen habe, sie großgezogen habe und den Haushalt geschmissen habe, war ich trotzdem in der Schule immer im Einser, Zweier Bereich unterwegs.
Das hat für mich alles gar nicht zusammengepasst und je älter ich wurde, desto weniger war das für mich stimmig. Irgendwann war ich Teenager, dann war ich Mai: die Powerfrau, die alles schafft.
Duales Studium, Karriereleiter hoch und ich hatte immer Angst, das andere Menschen mich als Opfer sehen könnten. Es war für mich die schlimmste Vorstellung Mitleid zu bekommen und bemitleidet zu werden. Mitleidig angeschaut zu werden.
Das ist für mich dieses Opferstigma. Diese Angst davor hat mich 17 Jahre lang davon abgehalten mein Schweigen zu brechen, mich davon abgehalten darüber zu sprechen, was mir passiert ist und das ich zum Opfer geworden bin. Ich hatte Angst vor diesem Stigma, vor diesem Stereotyp, dass ich damit identifiziert werde.
Ich konnte mir nicht eingestehen, dass ich zum Opfer geworden bin. Und das ist ja das Spannende. Es gibt einerseits den Stereotypen von 'Opfern', welchen ich auch versuche, durch Interviews aufzubrechen. Wo ich versuche, euch zu zeigen, was ich selber auf meinem Weg erst verstanden habe, dass es nicht 'das Opfer' gibt. Es gibt auch nicht 'die Frau' oder 'den Mann'.
Dementsprechend gibt es auch nicht 'das Opfer'. Jedes Opfer ist unterschiedlich und jeder geht seinen ganz persönlichen Weg. Banales Beispiel: Ich liebe es, mit offener Tür zu schlafen.
Ich habe eine Freundin, die missbraucht worden ist und bei ihr müssen alle Türen und Fenster zu sein. Und wer von uns beiden ist jetzt der Opfer? Ja wir beide. Und wer von uns ist jetzt der Stereotype? Wahrscheinlich eher der mit den geschlossenen Türen. Aber warum?
Ich hatte Angst davor als, als Opfer gesehen zu werden, und habe deswegen ewig lange den Mann dafür nicht angezeigt. Bei einem Missbrauch oder eine Vergewaltigung liegt eine Straftat vor. Bei einer Straftat haben wir zwei Seiten, nämlich Täter und Opfer.
Es hat seine Berechtigung, dass spirituelle Menschen sagen: Lasst uns nicht über Opfer sprechen, lasst uns über Betroffene, über Überlebende sprechen aber an erster Stelle steht erst mal die Benennung der Tatsachen.
Denn ohne Täter, kein Opfer und ohne Opfer kein Täter. In dem Moment, in dem eingestanden wird, das man zum Opfer geworden ist, kann auch die andere Person als das benannt werden, was sie ist, nämlich der Täter.
Diese zwei Seiten der Medaille finde ich wichtig und ich habe oft das Gefühl, gerade in den Diskussionen über, in meinem Podcast-Cover vorkommenden Begriff, habe ich das Gefühl gehabt, dass vollkommen an der Realität vorbeidiskutiert wurde.
Das fand ich sehr schade und da gebe ich euch gerne noch mal ein persönliches Beispiel. An dem Tag meiner Gerichtsverhandlung, der Tag an dem ich dem Mann, der mich als Kind missbraucht hat, zum allerersten Mal entgegengetreten bin, hat sich in meinem Leben ganz viel verändert.
Vorher war er der Angeklagte und ich war die Nebenklägerin. Solange kein Geständnis da ist, ist er lediglich der Angeklagte und nicht der Täter. In dem Moment, in dem wir uns das erste Mal im Gerichtsflur gesehen haben, ist er vor mir auf die Knie gefallen.
Ich habe in dem Interview mit der Eva Nitschinger mehr dazu erzählt, wenn ihr da noch mal genau reinhören wollt, dann gerne hier in Teil 1 und Teil 2.
Aber was ich hier sagen möchte, ist, dass er eingestanden hat, dass er Täter ist. Er hat seine Schuld eingestanden und in dem Moment hat er mir auch zugestanden, dass ich ein Opfer geworden bin, dass ich ein Opfer war.
Ich glaube, dass für viele andere dieses: Schritt für Schritt vorangehen, das Richtige ist.
Der erste Schritt ist das Eingestehen und Anerkennen der Rollen: Täter und Opfer. Genau in dem Moment hat sich bei mir emotional so viel gleichzeitig abgespielt. Ich hatte das Gefühl, die Realität um mich herum spielt sich in Zeitlupe ab.
Bei mir im Kopf, im Herzen und im Körper hat sich aber alles in zehnfacher Geschwindigkeit abgespielt. In dem Moment, in dem er sich vor mir auf die Knie geworfen hat, in dem Moment, in dem die Rollen klar waren, er ist Täter und ich bin Opfer, er geständig und reuig.
Ab da konnte bei mir Heilung eintreten. Bei mir ist wieder etwas ganz geworden. Ein kleines zartes Pflänzchen, dass auf einmal wieder wachsen konnte.
Ich glaube, wenn Menschen versuchen, den Begriff 'Opfer' zu vermeiden, egal ob man selber Opfer ist oder nicht, wird denjenigen, die tatsächlich Opfer geworden sind, etwas weggenommen. Heilung funktioniert Schritt für Schritt.
Kennt ihr diese ganzen Werbungen auf Facebook oder Instagram: 'Werde in 30 Tagen zum Millionär!' Oder: 'Verdiene in 30 Tagen deine ersten 10.000 Euro!' Danach folgt dann noch immer einer dieser Standardsätze: Ohne Kaltakquise zu betreiben, ohne Bekanntheit zu haben, ohne Geld einzusetzen.
Dieses Versprechen, dieser vermeintliche Gedanke man könnte Schritt drei erreichen, ohne Schritt eins zu machen. Und das ist meiner Meinung nach nicht wahr.
Meiner Meinung nach ist der allererste Schritt die Anerkennung der Rollen: Täter, Opfer.
Der zweite Schritt kann dann die Transformation dessen sein und in einer neuen Begriffserfindung münden. Das kann dann ‘Betroffene’ sein, so wie ich es jetzt auch ergänzt habe oder auch ‘Überlebende’, so wie es im Englischen oft als ‘Survivor’ genutzt wird.
Diejenigen die einen sexuellen Missbrauch, eine Vergewaltigung überstanden haben und immer noch am Leben sind.
Dabei geht es nicht darum, dass ihnen so viel Gewalt angetan wurde, dass sie hätten sterben können, sondern darum, dass sie den Überlebenswillen haben und weiter machen wollen, obwohl sie so sehr in ihren Persönlichkeitsrechten, in ihrer privatesten und intimsten Zone berührt und verletzt worden sind. Egal ob emotional oder körperlich.
Das ist für mich Schritt 1 und Schritt 2 tun. Nach dem ersten Schritt kann es dann auch zu der Entwicklung kommen die Beschreibung ‘Opfer’ abzulegen: Ich bin mal Opfer geworden, ich war einmal ein Opfer, heute bin ich aber Überlebende/ Betroffene. Vielleicht will derjenige auch gar kein Wort mehr wählen, will da keine Identität mehr zu haben, sondern man wurde mal sexuell missbraucht.
Sprache schafft Realität, deswegen verstehe ich auch einerseits die Kritik am Begriff 'Opfer' andererseits plädiere ich dafür den Prozess durchzugehen, den Heilungsprozess ganz zu machen.
Ich habe mal einen sehr spannenden Hinweis von meiner Therapeutin bekommen, sie meinte, ich soll doch anstatt 'meiner Vergewaltigung', die Vergewaltigung, die mir angetan wurde, die Vergewaltigung, die ich erlebt habe oder ich wurde vergewaltigt zu sagen.
In dem Moment, in dem ich das Possessivpronomen, 'meine' Vergewaltigung benutze, gehört es irgendwie zu mir und gehört es zu mir? Möchte ich das? Sage ich das bewusst?
Was ich damit sagen will: Ruft euch die Sprache einfach immer mal aktiv ins Gedächtnis und schaut, ob das noch zu der eigenen, aktuellen Realität gehört.
Wenn ich schon bei meiner Therapeutin bin, noch eine letzte Weisheit. Relativ zu Beginn der Therapie habe ich irgendwann mal gesagt, dass ich keinen Bock auf die Opferrolle habe. Sie war total irritiert, wie ich den auf das Wort Opferrolle komme.
Sie hat mir zu denken gegeben: Eine Opferrolle hat immer etwas mit Schauspiel zu tun, eine Schauspieler-Rolle und jemand kann in eine Rolle hinein- oder herausschlüpfen. Ich sei aber Opfer geworden und kann nicht einfach raus schlüpfen.
Sie hat es mir noch plakativer gezeigt: Ein Passant wird von einem Auto angefahren, dann ist der Passant zum Opfer geworden. Der Passant kann in dem Moment nicht einfach beschließen, kein Opfer zu sein.
Ich weiß das Beispiel passt nicht ganz zum Vergleich aber ich glaube, ihr versteht, was ich meine, niemand kann entscheiden, ob er Opfer ist oder nicht.
Auch der Begriff 'Opferrolle' ist sehr suggestibel, es unterstellt, dass wir als Opfer beschließen können, da rein und raus zu hüpfen wie es uns beliebt. Und auch das ist nicht wahr.
Noch ein Spruch, den ich irgendwo mal im Internet gelesen habe, der mich echt berührt hat. Da ging es darum, dass psychisch kranken Menschen oft unterstellt wird, dass sie nur so tun würden als, ob sie krank wären und das Opfer wären. Dabei ist es viel häufiger so, das sie so tun als wären sie gesund.
Das hat mich echt zum Nachdenken gebracht. Niemand geistig Gesundes schlüpft freiwillig in eine Opferrolle, denn die Opferrolle macht keinen Spaß.
Ich hoffe, ich konnte dir damit ein umfassendes Bild davon geben was eigentlich alles in einem Wörtchen, in dem Begriff 'Opfer' alles drin steckt. Welche Konnotationen, welche Stereotypen, welche Ängste, welche Sorgen und aber auch welche Chancen in der Benennung der Realität liegt.
Und genau deswegen hab ich mich dazu entschlossen den Untertitel anzupassen. Der alte Untertitel hieß: ein Podcast für Opfer, Freunde, angehörige und interessierte. Klobig ich weiß, deswegen ist er es auch nicht geworden. Ich habe das Wort Betroffene noch dazu genommen.
Der Untertitel ist jetzt: Der Podcast für Opfer, betroffene und interessierte. Das ist für mich total stimmig. Das sind, meiner Meinung nach die zwei Stadien, die es für die Heilung braucht. Dann eben noch für alle anderen Interessierten, die sich gerne informieren möchten, die das Thema spannend finden, die neugierig sind oder die vielleicht sogar jemanden kennen, dem das passiert ist, den wie ihr wisst, wird jede dritte Frau sexuell missbraucht.
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Hi, ich bin Mai 😊 Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht Opfern sexuellen Missbrauchs zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Auch wenn eure Scham und Angst etwas anderes erzählen: Das ist nicht wahr! Und es kommt noch besser: Der richtige schöne Teil eures Lebens liegt noch vor euch! Ich habe es geschafft, aus dem schlimmsten Erlebnis meines Lebens, eine enorme Kraft zu ziehen & mein Leben nach meinen Ideen neu zu gestalten - also kannst du das auch! Deine Mai 💛
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